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Dienstag, 29. November 2011

Der Premium-Mülleimer

Zu den alltäglichen Ärgernissen des modernen Lebens gehört es, wenn man zwar einen "Keine Werbung!"-Aufkleber am Briefkasten hat, aber trotzdem regelmäßig mehr Werbung als alles andere darin vorfindet. Bei allem verständlichen Ärger über diese Flut unerwünschter Reklame mag es allerdings ein tröstlicher Gedanke sein, dass Werbung nun einmal leider notwendig ist. Für die Volkswirtschaft. Nicht nur, weil sich wohl kaum ein Unternehmen ohne Werbung auf dem Markt behaupten könnte - Experten empfehlen, mindestens 7% des angestrebten Jahresumsatzes in Werbung zu investieren -, sondern auch, weil die Werbebranche selbst ein großer und umsatzstarker Wirtschaftszweig ist. Der allzeit rege Bedarf an Reklame schafft Arbeitsplätze und Steuereinnahmen und nützt somit - wie zumindest die liberale Wirtschaftsideologie, ehrfürchtig des alten Adam Smith Lehre von der "Unsichtbaren Hand" nachbetend, nicht müde wird uns einzutrichtern - letzten Endes uns allen.

Dass aber jedes Unternehmen mindestens 7% seines Umsatzes in Werbung investieren soll, gilt natürlich auch für die Werbebranche selbst; folgerichtig gibt es auch Werbung für Werbung, und nicht zu knapp. Das ist noch einigermaßen unschwer einzusehen; aber damit endet es noch nicht. Es ist noch mindestens eine weitere Potenzierung dieses Prinzips möglich: Werbung für Werbung für Werbung. Wer's nicht glaubt, dem sei eine Broschüre ans Herz gelegt, die ich unlängst durch Zufall in die Hände bekam.

Die Rede ist von der Werbebroschüre eines Messeveranstalters; die Veranstaltung bzw. Veranstaltungsreihe,  die in dem Faltblatt beworben wird und die im Jahre 2012 viermal in verschiedenen deutschen Städten stattfinden soll, heißt "MICE Marketplace" und wird beschrieben als "Die Trendmesse für den deutschen MICE-Markt". MICE? Klingt komisch, ist aber, wie Darth Vader sagen würde, "ei absolut machtvolles Werbeinschtrument, von dem Sie koi Ahnung hann". Die Abkürzung MICE steht für Meetings, Incentives (zu diesem Wort des Grauens möge weiter unten ein eigener Abchnitt folgen), Conventions und Events, und obendrein ist sie ein Akronym - also eine Abkürzung, derern einzelne Buchstaben zusammen wiederum ein sinnvolles Wort bilden. "Mice" heißt schließlich "Mäuse", und auch wenn dieses Wort im Englischen nicht dieselbe Doppelbedeutung hat wie im Deutschen, kann man "aus deutscher Sicht" (um mal eine gängige Sportreporter-Formulierung zu verwenden) doch sein klammheimliches Vergnügen daran haben, dass die Branche so freiwillig-unfreiwillig ausplaudert, worum es ihr im Grunde geht: um Mäuse, Mücken, Moos, Kies, Knete, Kohle. - Den Einwand "Aber gilt das nicht für jedes Business?" vorausahnend, erwidere ich: Na ja. Von irgendwas leben müssen wir alle, und "'s ist einem Menschen nicht zu verargen, dass er in seinem Beruf arbeitet" (Shakespeare, Heinrich IV., Erster Teil, I/2). Aber einen gewissen Unterschied macht es ja wohl doch, ob ein Wirtschaftszweig auch noch anderen - wenn man so will: "höheren" - Zwecken dient als nur dem des reinen Profits, oder eben nicht. Selbst wenndie ob'erwähnte Lehre von der "Unsichtbaren Hand" stimmen sollte, derzufolge das an sich egoistische Gewinnstreben des Einzelnen letztlich doch dem Allgemeinwohl dient, so geschähe das ja letztlich doch nur aus Versehen; und auch mit dem Verslein von der "Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft", lasse ich mich nicht einwickeln - das sind zwar schöne Worte, aber dahinter verbirgt sich ein moralischer Relativismus, mit dem man zur Not auch ein KZ leiten könnte.

Aber wohin reißt's mich fort? Ich wollte doch über die in Wort und Bild bestechende "MICE Marketplace"-Werbebroschüre schreiben. Also zurück zum Thema!

Beginnen wir mal ganz simpel:  Was ist und tut ein Messeveranstalter? - Er bietet anderen Unternehme(r)n ein Forum, um ihr Geschäft zu präsentieren. Die Kunden des Messeveranstalters - und somit die Adressaten der besagten Werbebroschüre - sind somit weniger die potentiellen Messebesucher als vielmehr die potentiellen Aussteller. Da es sich hier nun um eine Fachmesse für die MICE-Branche handelt, sind diese Aussteller nun aber selbst Veranstalter von Kongressen, Tagungen und sonstigen Marketing- bzw. Promotion-Events; und deren Zielgruppe, das angepeilte Publikum der Messe, gehört im Wesentlichen derselben Branche an. Ob das nun noch Werbung für Werbung für Werbung ist oder doch schon die vierte oder fünfte Potenz, darüber ließe sich trefflich philosophieren.

Manch einer mag nun meinen: Ist doch schön, wenn die Werbebranche so sehr mit sch selbst beschäftigt ist - dann muss sie mir wenigstens nicht den Briefkasten zumüllen. Ich fürchte jedoch, das ist zu kurz gedacht. Die Windungen der Schlange sind kompliziert, und so mag es am Ende so aussehen, als beiße sie sich in den eigenen Schwanz; aber letztlich kann kein Tier des Dschungels sich von sich selbst ernähren. Mit anderen Worten: Das Geld, das die Werbebranche innerhalb ihrer eigenen Reihen ausgibt - und wir reden hier, wie sich noch zeigen wird, von nicht gerade wenig Geld - muss halt irgendwie auch wieder 'reinkommen. Und wo soll es herkommen? In letzter Instanz: von dir, von mir und von meinem Nachbarn, der zwar auch über Werbe-Postwurfsendungen schimpft, sich aber freut, wenn mal Gutscheine von Burger King dabei sind. Und Burger King freut sich auch bzw. erst recht, denn die Gutscheine sind nur vier Wochen gültig, und um sie voll auszureizen, muss mein Nachbar an mindestens fünf Tagen in der Woche bei der Bulettenschmiede essen gehen. Am Ende hat er ca. 80 Euro ausgegeben und glaubt ernsthaft, er hätte was gespart.

Es sieht vielleicht so aus, als würde ich mich hier schon wieder in Abschweifungen ergehen, aber keine Sorge, ich bin noch ganz beim Thema. Dem Kunden durch Sonderangebote bzw. Ermäßigungsgutscheine zu suggerieren, er könne, indem er Geld ausgibt, Geld sparen, ist ja nun keine neue Erfindung; früher gab es dafür die Redewendung "mit der Wurst nach der Speckseite werfen". Heute drückt man sich vornehmer aus und spricht davon, "Kaufanreize zu schaffen". Man könnte diese Anreize auch - und nun komme ich auf einen weiter oben schon angekündigten Punkt - als Incentives bezeichnen, wäre dieser Begriff nicht bereits anderweitig besetzt. Incentive heißt zwar im Grunde nichts anderes als Anreiz, aber gemeint sind damit im Marketing-Sprech nicht Kaufanreize für die Kunden, sondern Leistungsanreize für ndie Mitarbeiter. Der Sachverhalt war mir durchaus bekannt, lange bevor ich den Begriff kannte oder auch nur ahnte, dass es einen speziellen Begriff dafür gibt. Die Grundidee des Incentive ist schließlich ganz simpel: Wenn ein Unternehmer seinen Mitarbeitern im Sommer ein Grillfest und im Winter eine Weihnachtsfeier mit Gänsebraten und anschließendem Tanz spendiert, dann könnte man denken, er will seinen Mitarbeitern einfach eine Freude machen; und es ist ja auch nicht auszuschließen, dass ein Unternehmer ein netter Mensch ist und seine Mitarbeiter mag - aber das wäre seine Privatsache. Die Kosten für Betriebsfeste hingegen sind Betriebsausgaben und unterliegen folglich einem betriebswirtschaftlichen Zweck - nämlich dem, die Mitarbeiter emotional an das Unternehmen zu binden und zu noch besseren Leistungen anzuspornen. Der Witz daran ist, dass, wenn die Rechnung aufgeht, der Mitarbeiter die vermeintlichen Geschenke, die ihm gemacht werden, am Ende doch selbst bezahlt - durch seine Arbeitsleistung, von der, wie wir jederzeit bei Marx nachlesen können, der Unternehmer bzw. das Unternehmen allemal mehr profitiert als der Mitarbeiter selbst.

Dabei sind Grillpartys im Kollegenkreis noch die harmloseste und netteste Art von "Incentive". In Unternehmen, die mehr auf die beflügelnde Wirkung interner Konkurrenz als auf ein harmonisches Betriebsklima setzen, geht es noch ganz anders zu. So genannte "Strukturvertriebe", wie sie vor allem in der Finanzdienstleistungsbranche verbreitet sind, bilden oft ein ausgeklügeltes Belohnungssystem für besonders fleißige und erfolgreiche Mitarbeiter aus. Wer in einem Monate oder einem Quartal eine besonders üppige Abschlussbilanz vorweisen kann, der darf schon mal auf Firmenkosten ein Wochenende lang einen Ferrari fahren oder wird zu einem Segeltörn auf der Yacht von Flavio Briatore eingeladen (beides übrigens keine ausgedachten Beispiele). Damit zieht er nicht nur den Neid seiner Kollegen auf sich, sondern, noch raffinierter, auch sein eigener Neid wird angestachelt: Nachdem er einmal kurz in die Welt der Reichen und Schönen 'reinschnuppern durfte, wird es ihn umso mehr nach einem eigenen Ferrari und einer eigenen Luxusyacht verlangen, und um diese Ziele zu erreichen, wird er noch härter arbeiten.

Menschen, deren Beruf es ist, sich derart perfide Ausbeutungsstrategien auszudenken, repräsentieren also das I in MICE, und nun dürfte wohl auch deutlich geworden sein, warum ich "Incentives" weiter oben als ein "Wort des Grauens" bezeichnet habe. Es sei mir erlassen, mich den anderen drei Buchstaben in gleicher Ausführlichkeit zu widmen. - Wer sich nun allerdings den "MICE Marketplace", diese Messe der Messen, als eine Art innersten Kreis von Dantes Hölle vorstellt, dem vermittelt die Werbebroschüre ein gänzlich anderes Bild. Von zahlreichen Fotos strahlen dem Betrachter attraktive jung-dynamische Menschen beiderlei Geschlechts in adretten Anzügen und Kostümchen an; das mit Abstand fröhlichste Foto - ein veritables Knäuel ausgelassne in die Kamera grinsender und winkender Twentysomethings unterschiedlicher Ethnien, fast wie in den einschlägigen Broschüren der Zeugen Jehovas, nur erheblich aufgekratzter - ziert einen Textblock, der für die "MICE ansprechBAR" wirbt:

"Networken Sie in lockerer Atmosphäre mit Ihren Kunden an der ansprechBAR - und dies bei kostenfreiem Food & Beverage."

Eine bemerkenswerte Prosaminiatur, die vom ersten bis zum letzten Wort schlagend beweist, dass die MICE-Branche mit unserer Sprache nichts Gutes im Schilde führt. Zum Schmunzeln bringt mich der Text trotzdem, denn beim Stichwort "Networken in lockerer Atmosphäre" erscheint vor meinem geistigen Auge unwillkürlich eine Gruppe ost- oder meinetwegen auch nordfriesischer Fischersfrauen, die in der Guten Stube zusammensitzen, zu den Klängen des "Wunschkonzerts" Netze knüpfen und dabei den unvermeidlichen Dorfklatsch auf den neuesten Stand bringen. Und "Food & Beverage" gibt's dabei auch, wenngleich die Fischersfrauen es eher "Speis' und Trank" nennen - oder, op Platt"Freten un' Supen".

Ans Eingemachte geht's dann in der Beilage "Standvarianten und Preise Einzelaussteller": Hier kann der potentielle Messe-Aussteller wählen zwischen zwei verschiedenen "Eckständen", einem "Kopfstand" (!) und einem "Inselstand", und alle gibt es in drei Ausstattungsvarianten: "premium", "plus" und "basic". In dieser Reihenfolge sind die Standvarianten von links nach rechts auf einer Doppelseite angeordnet, mit dem psychologisch interessanten Effekt, dass, wenn man den Prospekt in gewohnter "westlicher" Leserichtung durchstudiert, die Ausstattung immer spartanischer statt opulenter wird. So richtig "basic" geht's demnach in der rechten unteren Ecke zu, denn die basic-Variante des "Inselstands" besteht aus nichts anderem als einem rechteckigen Stück Teppichboden (20 m² groß) - kostet aber knapp 8000 € Miete für einen Tag. Inklusive Strom, immerhin. Aber sollte man nicht denken, wenn jemand schon fast 8000 € für die Standmiete berappt, müsste er sich die zusätzlichen knapp 1200 € für das Premium-Paket auch noch leisten können? Das Premium-Paket umfasst nämlich zusätzlich zu Teppichboden und Strom eine beleuchtete Logosäule, ein abschließbares Counter-Modul, einen Hocker, einen Prospekthalter, einen Tisch-Cube mit vier Sitz-Cubes und sogar einen Mülleimer!

Meine Kollegin Conny warf in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob man denn, wenn man sich für die basic-Variante entscheide, wenigstens einen eigenen Mülleimer mitbringen dürfe. Tja, vermutlich kann man das tun. Alternativ könnte man sich aber auch die Standmiete sparen und nur den Mülleimer nehmen. Und da kann man dann auch gleich diese lachhafte Werbebroschüre enstorgen.

Mittwoch, 16. November 2011

Kein Geistlicher hat ihn begleitet

So lautet der letzte Satz von Goethes Die Leiden des jungen Werthers, und kürzlich musste ich an diese Worte denken - und zwar, wie man sich denken kann, anlässlich einer Beerdigung. Ich war seit mindestens zehn Jahren auf keiner Beerdigung gewesen, und in Berlin überhaupt noch nicht.

Neu für mich war an dieser Beerdigung auch noch manches andere. Zum Beispiel, dass es hier kein Familienmitglied war, das zu Grabe getragen wurde, sondern ein Freund; und zwar einer, der nur wenig älter gewesen war als ich selbst.

Earl König - so sein Künstlername - war, neben allerlei anderen Beschäftigungen, vor allem Discjockey und Cartoonzeichner; und schon bei meiner ersten Begegnung mit ihm, vor rund zweieinhalb Jahren, hatte ich das Vergnügen, ihn in beiden Eigenschaften kennenzulernen. Ein gemeinsamer Bekannter - nennen wir ihn mal Elvis - hatte mich in einen Club in der Oranienburger Straße verschleppt, in dem Earl König an diesem Abend Platten auflegte; die Musik war ausgezeichnet, aber der eigentliche Grund für unseren Besuch in diesem Club war, dass Elvis mit Earl über eine Geschäftsidee zur Vermarktung von dessen Cartoons sprechen wollte. Da der Club ohnehin bedauerlich schwach besucht war, legte Earl am DJ-Pult eine Pause ein, spendierte Elvis und auch mir einen Cocktail und zeigte uns einige seiner Cartoons. Aus Elvis' Geschäftsidee wurde, soweit ich weiß, dann doch nichts, aber es wurde noch ein sehr lustiger Abend, der irgendwann im Morgengrauen in einer typisch "altberliner" Eckkneipe im berühmt-berüchtigten Stadtteil Wedding endete; Earl wohnte da um die Ecke, die Wirte kannten ihn alle und gaben ihm Kredit.

Etwa ein halbes Jahr zuvor hatte ich begonnen, in einer Bar im Stadtteil Prenzlauer Berg als DJ zu arbeiten - "arbeiten" ist eigentlich zuviel gesagt, es war eher ein Hobby, verbunden mit einem kleinen Nebenverdienst. Als Elvis mich nun an besagtem Abend Earl König vorstellte, tat er dies jedenfalls mit den Worten "der DJ aus dem ****"; und Earl fielen fast die Augen aus dem Kopf: Er kannte die Wirtin von früher und hatte bereits mit ihr vereinbart, zukünftig ebenfalls dort aufzulegen. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft - wenn auch nicht immer ohne persönliche und "künstlerische" Differenzen. Was letztere anging, glaubte Earl, da ich Anfänger und er schon seit 19 Jahren "im Geschäft" sei, könne ich eine Menge von ihm lernen; die Chefin sah das anfangs genauso, und zum Teil stimmte es sicherlich auch, aber ganz ehrlich gesagt wollte ich manches von dem, was er mir beizubringen gedachte, gar nicht lernen. Wenn Earl mir daraufhin Mangel an Professionalität vorwarf, hatte er womöglich Recht, aber ich betrachtete das Auflegen eben eher als Hobby, und da war der Spaß an der Sache mir dann doch erheblich wichtiger als der Anspruch auf Professionalität.

Trotz solcher Meinungsverschiedenheiten schätzten wir einander aber grundsätzlich sehr und verbrachten so manchen denkwürdigen Abend miteinander; zuletzt sah ich ihn an meinem Geburtstag, wo er sich auf meine Bitte hin um die Musikauswahl kümmerte und mir so nebenbei erzählte, er sei kürzlich im Krankenhaus gewesen, wegen Magenproblemen. Wegen seines Magens dürfe er auch keinen Alkohol trinken - was ihm, wie ich ihn kannte, vermutlich ziemlich schwer fiel.

In der Folgezeit telefonierten wir noch ein paarmal, es schien ihm gut zu gehen, von gesundheitlichen Beschwerden war keine Rede mehr. Unser letztes Gespräch drehte sich um DJ-Termine, ich sollte ihn vertreten, weil er eine Anfrage für einen gut bezahlten "Gig" in Leipzig hatte. Ein paar Wochen später erfuhr ich von seinem Tod.

Die Beerdigung sollte, so wurde mir gesagt, auf dem "Friedhof an der Müllerstraße" stattfinden. Das war allerdings insofern eine etwas unzureichende Information, als es an der Müllerstraße im Wedding mehrere Friedhöfe gibt. Instinktiv steuerte ich den Städtischen Urnenfriedhof an, erhielt aber gerade noch rechtzeitig einen Anruf von einem Bekannten, der ebenfalls auf dem Weg zu Earl Königs Beerdigung war und mir verriet, dass sie auf dem Domfriedhof II stattfand. Das überraschte mich, denn das schien ja darauf hinzudeuten, dass es ein kirchliches Begräbnis werden würde. Ich hatte nicht gewusst und auch nicht vermutet, dass Earl Kirchenmitglied war. Besonders religiös war er mir nie vorgekommen - obwohl wir uns mal auf seine Anregung hin Adams Äpfel angesehen haben, einen trotz seines ausgeprägt satirischen Tonfalls zutiefst religiösen Film, der auch gern in kirchlichen Gesprächskreisen gezeigt und diskutiert wird.

Die Trauergemeinde bestand aus rund 80 Personen, die meisten davon kannte ich nicht einmal vom Sehen. Zunächst versammelten wir uns in der kleinen Friedhofskapelle; im Vorbeigehen warf ich einen Blick auf die dort arrangierten Trauerkränze. Auf einer Kranzschleife stand "Uns fehlen die Worte", auf einer anderen "In Hamburg sagt man Tschüss" (Earl war gebürtiger Hamburger). Nachdem die Trauergäste ihre Plätze eingenommen hatten, begann die Orgel zu spielen...: "My Way". Auf der Kirchenorgel gespielt hatte ich den Song nun wirklich noch nie gehört, aber man kann sagen, was man will: Das hatte was. Im Anschluss hätte ich eigentlich eine Ansprache erwartet, es kam aber keine. Stattdessen folgte, nach einer besinnlichen Pause, mehr Orgelmusik. "Go, tell it on the Mountain". Unschwer zu erkennen als Aufforderung, nach draußen zu gehen, auch wenn da keine Berge waren und wir nichts zu Verkünden hatten. Ein ältlicher, untersetzter Friedhofsdiener nahm die Urne, die ich erst in diesem Moment als solche erkannte, an sich und trug sie mit den etwas mürrisch klingenden Worten "In Gottes Namen!" hinaus; dann setzte die Gemeinde sich gemessenen Schrittes in Bewegung zur Grabstelle, einem kleinen quadratischen Loch mit einem kleinen Becken voll Erde daneben. Der Friedhofsdiener raunzte erneut "In Gottes Namen!", ehe er die Urne in die Grube hinabließ. Ich nehme mal an, diese Worte sollten, wenn es schon keine Ansprache, kein Gebet, keinen geistlichen Trost etwelcher Art gab, wenigstens pro forma den christlichen Charakter des Begräbnisses dokumentieren; aber ich fand's sonderbar. In alten Zeiten, als es noch üblicher war als heutzutage, den Namen des HERRN unnütz im Munde zu führen, bedeutete die Redewendung "in Gottes Namen" ja auch so etwas wie "meinetwegen" oder "wenn's denn sein muss"; und der grantige Friedhofsdiener sah, als er diese Worte sprach, auch so aus, als meine er sie genau so.

"Kein Geistlicher hat ihn begleitet": In Goethes Werther verweist dieser Satz darauf, dass der Titelheld als Selbstmörder keinen Anspruch auf ein christliches Begräbnis hat. Man kann das als Kritik an der Kirche lesen, als Aufruf zu mehr Barmherzigkeit im Umgang mit Selbstmördern; aber ich hatte schon immer das Gefühl, aus dem Satz "Kein Geistlicher hat ihn begleitet", spreche auch so etwas wie trotziger Stolz: Im Leben hat Werther den Beistand der Kirche nicht gebraucht, im Tode braucht er ihn nun auch nicht. Mein Freund Earl König hat zwar - wie ich annehme, auch wenn ich es nicht mit Sicherheit weiß - nicht Selbstmord begangen, aber man könnte wohl behaupten, dieser trotzige Stolz passe zu ihm. Dennoch empfand ich es als befremdlich, wie die religiösen Züge des Beerdigungsrituals an diesem Donnerstagvormittag auf dem Domfriedhof II auf ein Minimum reduziert wurden.

Ich glaube, ich muss hier ein wenig ausholen. Hartgesottene Materialisten, die jedwede Art von Religion, Kultus oder überhaupt des Glaubens an etwas "Übersinnliches" als Relikt aus primitiven Entwicklungsstadien der Menschheit ansehen - einst sinnvoll oder notwendig, um das soziale Verhalten der Menschen zu regulieren, deren Vernunft einfach noch nicht weit genug entwickelt war, um ohne solche Krücken auszukommen; heute aber obsolet und nur noch peinlich - könnten argumentieren, Begräbnisrituale dienten einzig dazu, der geordneten "Entsorgung" von Leichen, die ansonsten unter freiem Himmel verwesen und somit die Umgebung verpesten würden, ein feierliches Mäntelchen umzuhängen. Ob die Anhänger dieser in sich ja durchaus schlüssigen Auffassung damit einverstanden wären, die Entsorgung ihrer sterblichen Überreste, oder auch derjenigen ihrer Angehörigen, schnell, sicher, sauber und kostengünstig von der Stadtreinigung abwickeln zu lassen, mag indes eine zweite Frage sein. -- Wenn sich an dieser Stelle bei meinen Lesern emotionaler Widerstand, ja Empörung regt, dann hat dieser Exkurs seinen Zweck erfüllt. Wem die Vorstellung, das Bestattungswesen kurzerhand der Müllabfuhr zu überlassen, Unbehagen bereitet, der gesteht damit, bewusst oder nicht, dem menschlichen Leichnam eine gewisse Würde zu. Diese Würde aber rührt offenkundig von der Überzeugung her, dass "etwas" vom Menschen "weiterlebt"; oder gerade heraus gesagt: Ohne den - wie auch immer diffusen - Glauben an irgendeine Form von "Leben nach dem Tod", irgendeine Art von "Jenseits" wären Begräbnisrituale schlicht sinnlos.

Dabei verweist die Verschiedenheit der Bestattungsrituale diverser Kulturen deutlich auf die Verschiedenheit der Jenseitsvorstellungen. In manchen alten Kulturen wurden die Toten gefesselt ins Grab gelegt, damit sie bloß nicht zurückkehren; in anderen gab man ihnen Waffen, Schmuck, gar Nahrungsmittel mit ins Grab, in wieder anderen legte man ihnen Münzen in den Mund oder auf die Augen, mit denen sie die Reise ins Totenreich bezahlen sollten. Die christlichen Kirchen lehnten bis ins 20. Jh. hinein die Einäscherung Verstorbener ab, weil sie vermeintlich der Lehre von der leiblichen Auferstehung widersprach - wogegen sich aus naturwissenschaftlicher Sicht einwenden ließe, dass auch die Verwesung, chemisch betrachtet, ein Verbrennungsprozess ist, nur ein sehr langsamer und "unsauberer".

- - Kaum habe ich diese Sätze über die Verschiedenheit der Jenseitsvorstellungen, die eine ebenso große Verschiedenheit von Bestattungsritualen bedingt, niedergeschrieben, da tritt das doch sehr gemischte Publikum bei der Beerdigung meines Freundes Earl König vor mein geistiges Auge, wie da die Trauergäste nacheinander vortraten und jeweils eine Handvoll Erde ins offene Grab rieseln ließen. Die meisten blieben dann noch einen Moment dort stehen, in stiller Besinnung oder in stillem Gebet - wer möchte es unterscheiden? Und plötzlich kommt mir in den Sinn, dass ein so reduziertes Begräbnisritual, in dem - abgesehen von der zweimaligen Nennung des ja durchaus unterschiedlichsten Deutungen zugänglichen Begriffs "GOTT" - keine verbindlichen religiösen Aussagen gemacht werden, in einer in religiöser Hinsicht so heterogenen Gesellschaft wie der unseren womöglich die besten Voraussetzungen dafür bietet, dass Menschen mit unterschiedlichsten oder auch gar keinen religiösen Vorstellungen zusammenkommen und gemeinsam von einem Verstorbenen Abschied nehmen können, den sie alle, jeder auf seine Weise, geliebt haben und vermissen.

Dann wiederum kommt mir der Gedanke, dass "gemeinsam" hier wohl nicht das richtige Wort ist. Wir waren alle zur selben Zeit am selben Ort, aber von Gemeinschaft war wenig zu spüren, auch wenn ich weiter oben den Begriff "Trauergemeinde" verwendet habe. Wo es keine Verbindlichkeit gibt, da gibt es auch nichts Verbindendes, und so ist es wohl kein Zufall, dass die Trauergäste, sofern sie sich nicht schon vorher gekannt hatten, einander fremd blieben. Am Schluss der Beerdigung dankte Earls Bruder in kurzen Worten allen Anwesenden für ihre Anteilnahme, und dann ging jeder seiner Wege.

Mein Bekannter, dessen Anruf mich gerade noch rechtzeitig zum richtigen Friedhof gelotst hatte, nahm mich auf dem Rückweg noch ein Stück mit dem Auto mit. Im Autoradio lief "Thriller", gefolgt von einem kurzen Bericht über den Prozess gegen Michael Jacksons Arzt; woraufhin mein Bekannter darüber phantasierte, wie Earl König im Jenseits, das er sich wie eine Bar vorstellte, Michael Jackson trifft, jovial auf ihn zugeht und ihn mit den Worten "Na, alte Schwuchtel?!" begrüßt.

Ich glaube, so oder so ähnlich dürfte sich auch Earl König selbst das Jenseits vorgestellt haben.

Freitag, 4. November 2011

Durchs wilde Feuilletonistan

Durch die Wüste, unter Geiern /
Musst du gurken, must du eiern.
Axel Sanjosé

Am 30.03.1912 starb in Radebeul bei Dresden der große Abenteuerschriftsteller Karl May; dieses Datum jährt sich demnächst zum 100. Mal. Und natürlich lassen Fachwelt und Medien es sich nicht nehmen, einen Künstler, dessen Schöpfungen sich tief ins kollektive (Unter-)Bewusstsein der Deutschen eingeprägt haben, anlässlich dieses runden Todestages nach Verdienst zu würdigen. Ebenso natürlich ist es, dass dabei niemand der Letzte sein will, sodass die besagten Würdigungen schon heuer ihren Anfang nehmen. So sind im laufenden Jahr bereits einige neue Biographien des "Maysters" erschienen, und von einer dieser Neuerscheinungen habe ich jüngst ein Rezensionsexemplar zugeschickt bekommen. Das heißt dann wohl, dass ich das Buch jetzt rezensieren muss. Wohlan denn! - Vorerst beschränke ich mich aber darauf, meine Lektüreerlebnisse nur meinem Blog anzuvertrauen. Autor und Verlag werden es mir, so hoffe ich, danken.


"Karl May - Untertan, Hochstapler, Übermensch" heißt das im Siedler-Verlag erschienene Buch von Rüdiger Schaper; der Titel entlockt mir schon mal ein Stirnrunzeln. Neugierig macht jedoch die Verlagswerbung, die verspricht, der Autor wage "einen völlig neuen Blick" auf Karl May.
- - - Nun gut. Lesern, für die der Name Karl May eine ferne Erinnerung an eine einst heiß geliebte Kindheits- und Jugendlektüre bedeutet oder die ihn womöglich nur durch die populären, aber wenig werkgetreuen 60er-Jahre-Verfilmungen mit Lex Barker und Pierre Brice (und/oder Michael "Bully" Herbigs durchaus kongeniale Parodie Der Schuh des Manitu) kennen, dürfte das Buch tatsächlich manch neue Perspektive eröffnen, und für genau solche Leser ist es offenbar in erster Linie geschrieben. Wer sich hingegen in Leben und Werk Karl Mays einigermaßen auskennt und womöglich auch schon mal in die wissenschaftliche Sekundärliteratur über den "Mayster" 'reingeschnuppert hat, dem wird Schapers Biographie inhaltlich nicht viel Neues bieten können. Aber Inhalt ist ja nicht alles - zumal der, im unmittelbaren Vorfeld des anstehenden "May-Jahres", ohnehin kein Alleinstellungsmerkmal sein kann. Lassen wir den Inhalt also vorerst beiseite und fragen lieber: Wie sieht's mit dem Stil aus?


"Stil", so schrieb Karl May anno 1899 in einer polemischen Auseinandersetzung mit seinen Kritikern, "ist die literarische Schnurrbartbinde, die sorgfältig und mit vieler Mühe eingeplättete Kavalierfalte an der Schriftstellerhose. Es gibt Schriftsteller, welche weder Geist noch Kenntnisse noch sonst etwas haben als nur den Stil." Autoren, wie May sie hier beschreibt, wurden schon damals gern Feuilletonisten; deshalb hatte May es so schwer mit ihnen. Blättert man heute in den Feuilletons namhafter deutscher Zeitungen, so hat man den Eindruck, dort wird unter "Stil" die Technik verstanden, nur mäßig originelle oder tiefgründige Aussagen mit Hilfe von überflüssigen Imponierwörtern aus dem Lateinischen oder Französischen (vice versa, avant la lettre, ad libitum, comme il faut, nolens volens), lahmen Wortspielen, verfremdeten Zitaten, völlig kontextferner Bildungsprotzerei und genialisch-elliptischem Satzbau so weit aufzublasen, dass der Leser darüber die Dürftigkeit des Inhalts aus den Augen verliert. Das Fatale daran ist: Dieser Stil ist ansteckend. Ich habe mal eine Germanistik-Dozentin den schönen Satz sagen hören: "Wenn man Goethes Hermann und Dorothea gelesen hat, kann man anschließend auch sein Abendessen in Hexametern bestellen - aber Kunst ist das deswegen noch lange nicht." Mit dem Feuilletonstil ist es noch schlimmer: Er ist nicht nur leicht nachzuahmen, sondern es ist schwer, ihn nicht nachzuahmen. Liest man so etwas regelmäßig, muss man sich sehr zusammenreißen, nicht selbst so zu schreiben; gerade hier in meinem Blog spüre ich das am eigenen Leibe. May-Biograph Schaper aber leitet im Hauptberuf das Kulturressort des Berliner Tagesspiegels; wie sollte man ihm da verübeln, dass er nicht anders kann als Feuilletonstil schreiben?


Das eigentlich Ärgerliche am gängigen Feuilletonstil ist aber, dass er nicht einfach nur eine zur Konvention gewordene sprachliche Form ist, sondern auch eine bestimmte Haltung gegenüber dem behandelten Gegenstand ausdrückt: die Haltung des geistigen Flaneurs. Gepflegtes Desinteresse, joviale Herablassung, olympische Langeweile. Der Feuilletonist, der diese Pose gründlich studiert hat, kann über alles schreiben, was ihm vor die Flinte kommt - in Wirklichkeit schreibt er dabei immer nur über sich selbst. Ein Großmeister dieser eitlen Selbstbespiegelung ist der jetzt hauptamtlich bei der Frankfurter Rundschau, daneben aber auch immer mal wieder für die Berliner Zeitung tätige Arno Widmann; dem Herrn Schaper von der Westberliner Konkurrenz darf man attestieren, dass er es gar so arg wie jener nun doch nicht treibt. Die May-Biographie war, wie man hört, eine Auftragsarbeit seitens des Verlags; aber der Autor gibt sich erkennbar Mühe, sein Thema interessant zu finden und somit auch für den Leser interessant zu machen. Leider jedoch ist ein Feuilletonist an Abwechslung gewöhnt; 233 Seiten nur über Karl May zu schreiben, wird da schnell langweilig, wenn man sich nicht nebenbei noch über Christoph Schlingensiefs Wagner-Inszenierungen, Helene Hegemanns Axolotl Roadkill, Thilo Sarrazins Deutschland schafft sich ab und Günter Grass' Memoiren auslassen darf. Doch keine Sorge, die Kunst der Abschweifung gehört zum Handwerk, und so lässt Rüdiger Schaper es sich nicht nehmen, all diese Namen und Themen (und noch viele mehr) in seinem Karl-May-Buch gleich mit abzuhandeln oder zumindest kurz anzureißen. Zu beobachten, auf welchen abenteuerlichen assoziativen Pfaden er dabei von einem Thema zum anderen kommt, macht beinahe Spaß.


Aber eben nur beinahe. Denn auch hier beschleicht den Leser immer wieder der Verdacht, der Autor spiegle in allem, was und worüber er schreibt, letztlich nur sich selbst. Er kann sich nicht hinter sein Thema zurücknehmen, er macht es umgekehrt. Schon nach einer sechseinhalb Seiten langen Einleitung geht ihm zum ersten Mal die Luft aus, und er schildert erst einmal seitenlang eine (selbstverständlich dienstliche) Reise nach Burkina Faso, um dann auf allerlei Um-, Ab- und Schleichwegen überraschend doch wieder auf Karl May zurückzukommen. Im weiteren Verlauf reflektiert Schaper dann über Kindheits- und Pubertätserfahrungen - nein, "reflektiert" ist hier schon zu viel gesagt: Er beschwört sie, zitiert sie herbei, die Geister der Vergangenheit: sein jüngeres Ich, sein "Inneres Kind", wie manche Psychologen sagen. Zwar bindet er diese Kindheitsimpressionen immer wieder zurück an Karl-May-Erlebnisse, im Kino oder lesend unter der Bettdecke, aber der Firnis ist zu dünn, die Konstruktion zu wacklig: Allzu deutlich spürt der Leser, dass Schaper das vorgebliche Thema seines Buches nur als Erzählanlass benutzt, als Ausgangspunkt für immer neue, frei flottierende Assoziationen. - Man muss freilich gestehen, dass diese Arbeitsweise durchaus Ähnlichkeit mit der Erzähltechnik Karl Mays hat: Auch bei diesem wird die Handlung, der "Plot" des jeweiligen Romans immer wieder überwuchert und in den Hintergrund gedrängt durch Episoden, Exkurse, autobiographische Einsprengsel. Aber Rüdiger Schaper ist nun mal nicht Karl May - auch wenn er es vielleicht gern wäre. (Vergleicht man das vordere Umschlagbild des Buches - Karl May im Old-Shatterhand-Kostüm - mit dem kleinen Porträtfoto Schapers auf der hinteren Umschlagklappe, dann stellt man allerdings eine irritierende Ähnlichkeit fest. Wüsste man nicht, dass das Titelbild authentisch ist - es erschien 1896 als Illustration zu Mays selbstironischer Glosse Freuden und Leiden eines Vielgelesenen in der Zeitschrift Deutscher Hausschatz und wurde auch als Autogrammkarte verbreitet -, dann könnte man auf die Idee kommen, Schaper hätte sich selbst ins westmännische Superheldendress geworfen.)


Im Zusammenhang mit dem viel diskutierten Paradox des "Reiseschriftstellers", der tatsächlich nur mit dem Finger auf der Landkarte reist, erwähnt Schaper das 1795 erschienene Buch Voyage autour de ma chambre von Xavier de Maistre, einem savoyischen Offizier, der einen 42tägigen Hausarrest dazu nutzte, das Innere seiner vier Wände im Stil eines Reiseberichts zu beschreiben. Dieser Exkurs verrät dem Leser mehr, als Schaper beabsichtigt haben dürfte: Unversehens erkennt man seine vermeintliche Karl-May-Biographie als 233 Seiten lange Reise des Autors durch seinen eigenen Brägen.
(Für Dialekt-Unkundige: ndt. "Brägen" = "Kopf, Gehirn"; vgl. engl. "brain".)


Den Schaden davon hat in erster Linie Karl May. Zwar bezeichnet Schaper ihn wiederholt als "Genie", das hundert Jahre nach seinem Tode endlich als solches anerkannt werden solle; aber im Grunde weiß er mit einem "Genie" gar nichts anzufangen, also holt er May schnell wieder von diesem Sockel herunter und bespricht Leben, Werk und Wirkung des "Maysters" in einem so Feuilleton-typisch saloppen Tonfall, dass man schon von Banalisierung sprechen muss. Dabei scheint es Schaper nicht im geringsten bewusst zu sein, wie sehr er der "Gefahr, die ohnehin flache Karl-May-Rezeption fortzuschreiben" - vor der er auf S. 123 warnt - selbst erliegt. Da hilft es auch nichts, dass er premanent assoziative - aber eben nur assoziative - Querverbindungen zwischen May und anerkannten Größen der Hochkultur (wie Büchner, Thomas Mann, Kafka und immer wieder Wagner und Nietzsche) zieht. Dass sein Buch wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügt - schon deshalb nicht, weil er die zahlreichen, zum Teil sehr umfangreichen Zitate, die er bringt, nirgends belegt und nicht einmal ein Literaturverzeichnis angelegt hat -, dürfte Schaper kaum bekümmern; dass er aber die wissenschaftliche Sekundärliteratur zu Karl May in Bausch und Bogen abqualifiziert, die Forschungen der 1969 gegründeten Karl-May-Gesellschaft als Bemühungen von "kleingärtnerischen, kaninchenzüchtenden Hobby-Exegeten" (S. 176) bespöttelt und - wie Alfred Polgar sagen würde - "von unten herab" über die intellektuell anspruchsvollen Karl-May-Studien Arno Schmidts und Hans Wollschlägers herzieht, gereicht ihm nicht gerade zur Empfehlung.


Steht Rüdiger Schaper demnach mit der Fachwissenschaft auf Kriegsfuß, so ist er umso mehr in seinem Element, wenn er die "popkulturelle" Seite des Phänomens Karl May in den Fokus nimmt. Originell ist, dass er besonders das vielschichtige, symbolbeladene Alterswerk Mays unter diesem Aspekt beleuchtet. Wenn er eine Szene aus Mays letztem Roman Winnetou IV (1910), in der ein Gemälde Sascha Schneiders, Winnetous Himmelfahrt darstellend, effektvoll auf einen Wasserfall projiziert wird, assoziativ mit Leuchtreklame in Las Vegas oder gar mit Disneyland in Verbindung bringt oder wenn er Parallelen zwischen Mays vorletztem Roman Ardistan und Dschinnistan (1909) und James Camerons Hollywood-Blockbuster Avatar (2009) aufzeigt, gerät ihm das zwar - bedingt durch die unbezwingbare Oberflächlichkeit seiner Schreibe - nur teilweise überzeugend; immerhin gelingt es ihm damit aber, Berührungsängste gegenüber dem von Teilen der May-Forschung, allen voran von Hans Wollschläger, in den Olymp der "Großen Dichtung" erhobenen "Spätwerk" Mays abzubauen, indem er aufzeigt, dass auch die vermeintlich so anspruchsvollen späten May-Romane einfach Spaß machen können. Dies ist die eigentlich originäre Leistung von Schapers May-Biographie, und in diesem einen Punkt ist auch die Verlagswerbung, der zu Folge Schaper einen "völlig neuen Blick" auf Karl May wage, nicht übertrieben. Schade, dass er sich nicht stärker auf diesen Aspekt konzentriert hat. Dem Buch hätte es gut getan.

Sonntag, 2. Oktober 2011

Wo man singt, da lass' dich ruhig nieder...

Sonntag, 02. Oktober: Bei strahlendem Sonnenschein mache ich mich auf den Weg zur St.-Christophorus-Kirche in Berlin-Neukölln. Ich bin etwas früh dran und studiere, ehe ich das Gotteshaus betrete, erst einmal den Aushang mit der Gottesdienstordnung. Heute steht ein "Familiengottesdienst zum Erntedankfest" auf dem Programm. Ein bisschen schreckt mich das ab. "Familiengottesdienst" ist in St. Christophorus an jedem ersten Sonntag im Monat, und um es mal ganz schlicht auszudrücken: Kinderbespaßung und locker-flockige Gitarrenmusik in der Kirche sind "nicht so mein Ding". In formaler Hinsicht bin ich wohl ziemlich konservativ. Aber okay, der HERR spricht:

"Lasst die Kinder zu mir kommen; hindert sie nicht daran! Denn Menschen wie ihnen gehört das Reich Gottes. Amen, das sage ich euch: Wer das Reich Gottes nicht so annimmt, wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen." (Mk 10, 14f. / Lk 18, 16f.)

Anstatt mich darauf zu berufen, dass im Matthäusevangelium der letzte Vers nicht vorkommt (vgl. Mt 19,14), schlucke ich meine ästhetischen Vorbehalte hinunter und trete ein.
Mein Eindruck von diesem Gottesdienst ist zwiespältig. In den Bankreihen liegen Liederbücher vom 90. Deutschen Katholikentag (Berlin 1990) aus, womit schon mal klar ist: Choräle gibt's heute nicht. Allerdings werden die einschlägigen Katholikentagsschlager nicht - wie ich es auch schon mal erlebt habe - von Pater Kalle Lenz SAC auf der umgehängten Wandergitarre begleitet, sondern von einem Ensemble mit Querflöte, E-Bass und Cajón. Bei dem Evergreen "Laudato si, o mio Signore" bekomme ich doch tatsächlich Gänsehaut, und schön finde ich auch, dass Pater Kalle an dieses auf dem Sonnenhymnus des Hl. Franz von Assisi basierende Lied ein paar Sätze über Leben und Tod dieses Heiligen anschließt. Das heutige Evangelium, Mt 6, 25-34 (Von der falschen und der rechten Sorge) finde ich sehr bewegend und inspirierend, und zur Kommunion gibt es Hostien, die von der Papstmesse im Olympiastadion übrig geblieben sind. So weit, so schön. Dass die Predigt zu einem großen Teil als heiteres Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Pater Kalle und den um den Altar versammelten Kindern gestaltet wird: na ja, Geschmackssache. Für meinen Geschmack hätte die Predigt ruhig etwas weniger Ernährungsberatung und dafür mehr Theologie enthalten dürfen; aber Pater Kalle ist einfach ein extrem sympathischer Typ, dem lasse ich so einiges durchgehen. Und die Anekdote, wie er Geschmack an Zwiebeln gefunden hat, ist wirklich lustig.


Dass der liturgische Rahmen der Heiligen Messe, den Pater Kalle generell eher locker zu handhaben pflegt, in diesem Familiengottesdienst gravierende Auflösungserscheinungen zeigt, war wohl schwerlich anders zu erwarten. Die musikalische Gestaltung der Feier durch das oben erwähnte Ensemble trägt das Ihre dazu bei. "Äh, haben wir ein Lied zum Credo?", fragt Pater Kalle, und die Musikgruppe antwortet mit einem Song, dessen Text eher zum Gloria gepasst hätte, mit dem Credo aber nun wirklich gar nichts zu tun hat. Auch mag man sich fragen, wie sinnvoll es ist, "Komm, Herr, segne uns" als Auszugslied zu singen, wo der Entlassungssegen doch bereits zuvor erteilt worden ist. (Ich habe in meinen Teenagerjahren selbst mal an der Gestaltung eines Jugendgottesdienstes mitgewirkt, und damals hat man uns die Verwendung von "Komm, Herr, segne uns" als Auszugslied aus ebendiesem Grund untersagt. Der Priester ist schließlich kein Hampelmann. Wenn er einen Segen spendet, dann hat man nicht hinterher um noch einen zu bitten.)


Bedenken grundsätzlicher Art hatte ich auch bereits beim Einzugslied, "Es könnte sein" von Eugen Eckert (Text) und René Frank (Melodie). Ich will mich an dieser Stelle nicht allzu breit darüber auslassen, aber der Text dieses Liedes riecht für mich ein wenig nach marxistisch inspitierter Befreiungstheologie - oder anders ausgedrückt: nach der vermessenen Auffassung, es sei dem Menschen aufgegeben, selbst das Paradies auf Erden zu schaffen.


Zur Kommunion wird dann das Lied "Nimm, O Herr, die Gaben, die wir bringen" gespielt; liturgisch hätte es besser zur Gabenbereitung gepasst, aber Schwamm drüber. Gegen den Text des Liedes habe ich an sich nichts einzuwenden:


Nimm, O Herr, die Gaben, die wir bringen.
Sieh auf uns und segne Brot und Wein.
Was wir beten und was wir singen,
soll allein für dich unsre Opfergabe sein.

Laß uns alle deine Jünger werden.

Wer sein Leben mit dir wagt gewinnt.
Denn durch dieses Brot schenkst du uns Leben,
selbst wenn wir in dieser Welt gestorben sind.

Irritierend finde ich etwas ganz Anderes: Die Melodie, auf die dieser Text gesungen wird, stammt aus dem Musical Jesus Christ Superstar von Andrew Lloyd Webber!
Der Kirchenmusiker Andreas Konrad erwähnt "Nimm, O Herr, die Gaben, die wir bringen" in seiner Diplomarbeit Neues Geistliches Lied - Chancen und Risiken als ein Beispiel für die im "Neuen Geistlichen Lied" gar nicht so seltene Praxis der Kontrafaktur: "Ein profaner Song, dessen Text und Kontext im allgemeinen gut bekannt sind", wird mit einem religiösen Text kombiniert (als weitere Beispiele nennt Konrad ein "Vater Unser"-Lied auf die Melodie von Guantanamera sowie den Song "Dank sei dir, Vater, Dank", der auf die Melodie von John Denvers "Country Roads" gesungen wird...!). Andreas Konrad kritisiert, dass solche bekannten Melodien, auch wenn sie mit einem religiösen Text kombiniert werden, "Assoziationen hervorrufen, die ihrerseits mit der Liturgie [...] nicht in Einklang zu bringen sind". Im Detail geht er auf die genannten Beispiele nicht ein - und somit auch nicht auf das im Fall von "Nimm, O Herr, die Gaben, die wir bringen" ausgesprochen heikle Spannungsverhältnis zwischen dem ursprünglichen und dem "neuen" Text, bzw. zwischen der Funktion des Liedes im Kontext von Jesus Christ Superstar und seiner liturgischen Verwendung im Kontext von Gabenbereitung und/oder Kommunion.

Meiner persönlichen Meinung nach ist Jesus Christ Superstar nicht nur musikalisch Andrew Lloyd Webbers vielleicht stärkstes Werk; auch der Text (von Tim Rice) ist hoch bemerkenswert: Er zeugt von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Gestalt Jesu Christi und ihrer Darstellung in den Evangelien und ist somit auch theologisch durchaus gehaltvoll. Nur eins ist er gerade nicht: nämlich ein Bekenntnis zum christlichen Glauben, weder im Sinne der katholischen Kirche noch irgendeiner anderen mir bekannten christlichen Konfession.Dramaturgisch orientiert sich Jesus Christ Superstar zwar an der Tradition der Passionsspiele, aber von der inhaltlichen Tendenz her ist das Musical eher mit Nikos Kazantzakis' Roman Die letzte Versuchung Christi (1988  von Martin Scorsese verfilmt) vergleichbar - auch darin, dass Judas Ischariot der eigentliche Protagonist und Sympathieträger ist.

Die Melodie, auf die das Lied "Nimm, O Herr, die Gaben, die wir bringen" gesungen wird, ist in Jesus Christ Superstar Bestandteil der Nummer "The Last Supper" - "Das letzte Abendmahl" - und steht damit in der Dramaturgie des Musicals an genau der Stelle, an der das Lied heute liturgisch Verwendung findet; das allein sollte schon aufhorchen lassen. Gesungen wird die Passage im Musical von den Jüngern Jesu, und zwar mit folgendem Text:

Look at all my trials and tribulations
Sinking in a gentle pool of wine
Don't disturb me now I can see the answers
Till this evening is this morning life is fine


Always hoped that I'd be an apostle
Knew that I would make it if I tried
Then when we retire we can write the gospels
So they'll still talk about us when we've died

Die erste Strophe zeichnet ein zwar wenig schmeichelhaftes, aber menschlich nachvollziehbares Bild von den Jüngern, die ihre Ratlosigkeit und Beunruhigung am Vorabend der Passion Christi im Abendmahlswein buchstäblich zu ertränken suchen. Die zweite Strophe jedoch ist pure antiklerikale Polemik: Die Kirche, ja die ganze christliche Religion wird als nicht von Jesus Christus gestiftet, sondern als aus eigennützigen Motiven von den Jüngern fingiert dargestellt. Das ist eine in kirchenkritischen Kreisen recht populäre Auffassung, aber dass ein Lied dieses Inhalts als Melodievorlage für ein Kirchenlied, noch dazu ein katholisches, verwendet wird, wirkt doch gelinde gesagt sonderbar. Darauf, dass hier sehr bewusst verfahren wurde, lassen subtile Übereinstimmungen zwischen dem Originaltext und der Kirchenliedversion schließen - man beachte etwa den 2. Vers der ersten und vor allem den letzten Vers der zweiten Strophe.

Es stellt sich also die Frage: Was soll das? Natürlich könnte man argumentieren, es handle sich hier lediglich um einen Versuch, die ja nun wirklich sehr sakral klingende Komposition Webbers für die Kirche nutzbar zu machen, indem man den unkirchlichen Text von Tim Rice quasi "amputiert" und durch einen theologisch unbedenklichen ersetzt. Aber, wie Andreas Konrad zu Recht festgestellt hat: Die unerwünschten Assoziationen bleiben - zumindest bei denjenigen Hörern, die das Original kennen.

Freitag, 30. September 2011

Dass ich das noch erleben darf!: "Berliner Zeitung" lobt katholische Kirche

„Torben P. geht wieder zur Schule“: Mit dieser vermutlich harmlosen Überschrift beginnt der Berlin-Teil der Berliner Zeitung vom Mittwoch, dem 28. September 2011. Die anderen Tageszeitungen der Hauptstadt bringen diese Nachricht ebenfalls, aber dort wird der junge Mann, um den es hier geht, in den Überschriften meist nicht bei seinem Namen genannt, sondern mit Epitheta wie „U-Bahn-Schläger“, in den unfeineren Gazetten gern auch „Hasstreter“, betitelt.

Da ich nicht davon ausgehen kann, dass der Fall des Torben P. auch außerhalb Berlins allgemein bekannt ist, hier eine kleine Zusammenfassung nach dem Motto „Was bisher geschah“:

In der Nacht von Karfreitag auf Karsamstag (ausgerechnet!) attackierte der 18-jährige Schüler Torben P. am Bahnsteig der U6 am Bahnhof Friedrichstraße einen 29-Jährigen, der am selben Bahnsteig wartete. Er trat dem Mann viermal gegen den Kopf und verletzte ihn damit lebensgefährlich; anschließend stellte er sich – offenbar selbst schockiert über diesen extremen Gewaltausbruch – der Polizei.

Besonders großes Aufsehen erregte dieser Fall dadurch, dass die Bilder der Überwachungskamera, die die Tat aufgezeichnet hatte, von der Polizei veröffentlicht wurden, sodass die ganze Brutalität des Verbrechens für jedermann sichtbar wurde. In einem von den örtlichen Medien intensiv beobachteten Gerichtsverfahren wurde Torben P. wegen versuchten Totschlags zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt; da die Verteidigung jedoch Revision beantragt hat, ist das Urteil noch nicht rechtskräftig, und Torben P. erhielt bis auf weiteres Haftverschonung – lediglich mit der Auflage, sich einmal wöchentlich bei der Polizei zu melden. Von einem Teil der Medien – allen voran der stramm konservativen Boulevardzeitung B.Z. – wurde diese Haftverschonung scharf kritisiert.

Als problematisch für den 18-Jährigen erwies sich nun aber die Frage des Schulbesuchs. Bis zur Tat hatte er die Bettina-von-Arnim-Schule in Reinickendorf besucht; böse Zungen könnten nun anmerken: „Das erklärt einiges.“ Zwar weiß ich nicht, ob die Bettina-von-Arnim-Schule „offiziell“ (was immer das heißen möchte) als „Problem“- oder „Brennpunktschule“ oder dergleichen geführt wird, und auch dass HipHop-Star Sido ein Absolvent dieser Schule ist, spricht ja nicht unbedingt gegen sie; aber ich komme beruflich viel mit Schulklassen verschiedenster Berliner Schulen in Kontakt, und die Arnim-Schüler gehören aus meiner Sicht entschieden zu den, na ja, sagen wir mal „verhaltensauffälligsten“. Einen zwar noch nicht rechtskräftig verurteilten, aber geständigen und zudem dank des großen Medienechos weithin bekannten Gewaltverbrecher wollte man aber, vielleicht gerade deswegen, an dieser Schule nicht dulden: Torben P. wurde vom Unterricht ausgeschlossen und erhielt Einzelunterricht außerhalb des Schulgebäudes.

Um diesem auf längere Sicht untragbaren Zustand abzuhelfen, hat die Berliner Justizverwaltung – wie jetzt bekannt wurde – schon seit Mitte Juli sondiert, ob man Torben P. an einer Schule in freier Trägerschaft unterbringen könnte. Die Schulstiftung der evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, die insofern eigentlich „zuständig“ gewesen wäre, als Torben P. evangelischer Konfession ist, reagierte allerdings zurückhaltend: Erst einmal wolle man ein rechtskräftiges Urteil abwarten. Die Anfrage beim katholischen Erzbistum Berlin hatte mehr Erfolg, und so besucht der berüchtigte „U-Bahn-Schläger“ seit vergangenem Dienstag das katholische Liebfrauen-Gymnasium im Stadtteil Westend.

Dass diese Entscheidung des Erzbistums nicht nur auf Gegenliebe stößt, kann nicht überraschen. Ein Lehrer des Liebfrauen-Gymnasiums weigerte sich, Torben P. zu unterrichten; auch bei einigen Schülern und deren Eltern löst der neue Mitschüler Ängste aus.

Während die schon erwähnte B.Z. es offenbar als ihre Aufgabe ansieht, solche Ängste noch zu schüren – zum Beispiel, indem sie ihren Bericht über den Schulwechsel des jungen Delinquenten mit einem der berüchtigten Überwachungskamera-Bilder garniert –, bezieht die eher linksgerichtete Berliner Zeitung eine entschieden andere Position. Nicht nur ist der von Martin Klesmann gezeichnete Artikel „Torben P. geht wieder zur Schule“ von erkennbarem Wohlwollen gegenüber der Entscheidung des Erzbistums geprägt, den Straftäter am Liebfrauen-Gymnasium aufzunehmen und ihm so „einen Schritt zurück in ein normales Leben“ zu ermöglichen; links neben dem Artikel, in der Kolumne Stadtleben, erscheint unter der Überschrift „Mutige Entscheidung“ zudem ein Kommentar zum selben Thema, verfasst vom selben Autor. Und wie um den unglaublich scheinenden Umstand, dass die mit kirchen- und allgemein religionskritischen Äußerungen sonst nicht sparende Berliner Zeitung die katholische Kirche lobt, gezielt und unmissverständlich zu betonen, wird dem Kommentar der fettgedruckte Hinweis vorangestellt: „MARTIN KLESMANN lobt die katholische Kirche, die für den U-Bahn-Schläger einen Schulplatz hat.“ „Barmherziger, so muss man es sagen“, findet Klesmann die Haltung des Erzbistums im Vergleich zu derjenigen der evangelischen Schulstiftung, und der Kommentar schließt mit dem Fazit:
„Von der katholischen Kirche mag man halten, was man will.“ (Immerhin!) „Sie hat diesen Fall aber öffentlichkeitswirksam genutzt, um ihren Markenkern herauszustellen: Wer Reue zeigt, kann Vergebung erfahren.“

Man sieht: Ein vorbehaltloses Lob für die katholische Kirche wäre der Berliner Zeitung dann doch etwas zu viel des Guten gewesen. Aber auch wenn man bemängeln mag, dass der Begriff „Markenkern“ – aus dem die Vorstellung eines religiösen „Marktes“ mit konkurrierenden „Anbietern“ spricht – dem Selbstverständnis der katholischen Kirche kaum gerecht wird; auch wenn man Anstoß daran nehmen mag, dass in der Formulierung die Unterstellung mitschwingt, dem Erzbistum gehe es in dieser Sache hauptsächlich um PR; die Kernaussage von Klesmanns Fazit bleibt bemerkenswert genug: Mit der Aufnahme des „U-Bahn-Schlägers“ am Liebfrauen-Gymnasium praktiziert das Erzbistum Berlin in vorbildlicher Weise christliche Nächstenliebe.

Der zuständige Dezernatsleiter des Erzbistums, Hans-Peter Richter, stellt derweil klar: „Die Schwere der Tat soll durch die Aufnahme in die Liebfrauenschule nicht verharmlost werden“. Auch das ist zweifellos eine wichtige Feststellung. Torben P. hat sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht, für das der Rechtsstaat ihn bestrafen muss (und wird). Dass er sich freiwillig gestellt und vor Gericht glaubwürdig Reue gezeigt hat, mag sich strafmildernd auswirken, hebt aber seine Schuld nicht auf, weder juristisch noch moralisch. Dennoch bedeutet Reue aus christlicher, speziell katholischer Sicht weit mehr als im juristischen Kontext: Reue ist der erste Schritt zur Umkehr, einer zentralen Kategorie der Sünden- und Vergebungstheologie. „Ebenso wird auch im Himmel mehr Freude herrschen über einen einzigen Sünder, der umkehrt, als über neunundneunzig Gerechte, die es nicht nötig haben, umzukehren“, heißt es im Lukasevangelium im Anschluss an das Gleichnis vom verlorenen Schaf (Lk 15,7). – Torben P. auf seinem Weg zur Umkehr ein Stück entgegenzukommen, ihn zu unterstützen und zu begleiten, das ist die Aufgabe, die die Leitung des Liebfrauen-Gymnasiums auf sich genommen hat. An seiner neuen Schule wird der junge Mann von einer Psychologin und einem Seelsorger betreut. Der letztere hat, wie die Berliner Zeitung berichtet, aus aktuellem Anlass eine Unterrichtsreihe zum Thema „Schuld, Reue und Vergebung“ erarbeitet.

Mittwoch, 28. September 2011

Papstbesuch in Deutschland - Eine Nachlese

Donnerstag, der 22. September 2011. Das heute-journal im ZDF zeigt einen Beitrag von der Protestdemonstration gegen den Papstbesuch in Berlin. Eine junge Frau, vielleicht zwanzig Jahre alt, wird interviewt; in Tonfall und Mimik irgendwo zwischen Lachen und Weinen, zuweilen leicht stockend, nach den richtigen Worten suchend, erklärt sie: „Ich denke, dass der Papst ein Vorbild für sehr viele Menschen ist. Und wenn so jemand solche Hasspredigten verbreitet, diskriminierende Worte spricht – das finde ich ganz schlimm.“

Die emotionale Betroffenheit, die aus diesen Worten spricht, ist ohne Zweifel echt; aber ich frage mich: Wann hätte Papst Benedikt XVI. jemals Hass gepredigt oder sich mit diskriminierenden Äußerungen hervorgetan? Wie kommt diese sympathische junge Frau auf so etwas? – Fast zeitgleich zu dieser Demonstration hält der Papst eine Rede vor dem Deutschen Bundestag. Manch einer wird diese Rede als allzu akademisch und professoral empfinden, aber ohne Zweifel enthält sie eine Reihe sehr beachtenswerter Gedanken zum Verhältnis zwischen Macht und Recht sowie zum Verhältnis zwischen Mensch und Natur. Schade, dass rund 100 Parlamentarier diese Rede nicht miterleben, da sie es vorgezogen haben, dem Auftritt des Papstes im Bundestag aus Protest fern zu bleiben. Einige von ihnen gehen stattdessen zu der Demonstration, zusammen mit idealistischen jungen Menschen, die buchstäblich nichts über diesen Papst wissen, außer dass er Papst ist – was ihnen aber offenbar schon genügt, um ihn abzulehnen – und die sich im Namen von Aufgeklärtheit und Toleranz vor den Karren wirklicher Hassprediger spannen lassen. Solchen wie Michael Schmidt-Salomon, der zu den Initiatoren der Demonstration und zu den Hauptrednern bei der Kundgebung gehört. Schmidt-Salomon, Vorstandssprecher der atheistischen Giordano Bruno Stiftung, bezeichnet sich als Philosoph, was insoweit korrekt ist, als er dieses Fach studiert hat; aber bei einem originellen oder tiefsinnigen Gedanken habe ich ihn noch nie ertappt. Stattdessen sieht man ihn zuweilen in Talkshows, wo er jeden, der es wagt, anderer Meinung zu sein als er, entweder beschimpft oder sich über ihn lustig macht. Interessant, dass jemand wie er anderen Intoleranz vorwirft und damit ernst genommen wird.

Wie das demonstrative Fernbleiben rund 100 Abgeordneter von der Papstrede im Bundestag zeigt, fällt es auch manch einem gestandenen Politiker offenbar leichter, den Papst zu schmähen, wenn sie das, was er zu sagen hat, gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Aber auch von denen, die die Rede gehört oder hinterher nachgelesen haben, haben viele etwas zu kritisieren. Nicht an dem, was Benedikt XVI. vor dem Parlament gesagt hat – dafür findet selbst der SPIEGEL anerkennende Worte. Die Kritik entzündet sich vielmehr an dem, was er nicht gesagt hat – also daran, dass er nicht das gesagt hat, was er nach Meinung seiner Kritiker hätte sagen sollen. Er hätte zum Missbrauchsskandal Stellung nehmen sollen, zum Reformbedarf innerhalb der katholischen Kirche, zur Ökumene… Liest man diesen Forderungskatalog in voller Länge, dann entsteht der Eindruck, manch ein Papstkritiker hätte erwartet, dass Benedikt seinen Auftritt vor dem Bundestag für eine Art Regierungserklärung nutzt – was allerdings schon deshalb keine realistische Erwartung ist, weil ein Papst, selbst ein deutscher, dem Deutschen Bundestag keine Rechenschaft über seine Amtsführung schuldig ist. Zur Rechenschaft ziehen wollen ihn aber viele, allen voran der erwähnte Schmidt-Salomon, der auf der Kundgebung der Anti-Papst-Demonstration verkündet, der Papst gehöre „nicht in den Bundestag, sondern vor Gericht“.

Die Speerspitze der Papstgegner ist also, wie diese Äußerung zeigt, weit darüber hinaus, irgendwelche positiven Erwartungen an den Besuch des Kirchenoberhaupts zu knüpfen. Das ist immerhin eine konsequentere Haltung als die derjenigen Papst- und Kirchenkritiker aus Politik und Gesellschaft, die sich „enttäuscht“ darüber äußern, dass der Papst sich nicht ihren Vorstellungen gemäß verhält. Dass diese Enttäuschung zu einem großen Teil aus einer von vornherein unrealistischen und einer Apostolischen Reise des Papstes nicht angemessenen Erwartungshaltung resultiert, betont u.a. der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Bündnis 90/Die Grünen), ein engagierter, dabei durchaus kritischer Katholik. Solche Einsichten – die Kretschmann mehrfach unerschrocken vor Fernsehjournalisten wiederholt, die nur zu gern ein bisschen Papstschelte von ihm hören wollen – hindern die unentwegten Missvergnügten, und mit ihnen einen großen Teil der Medien, jedoch nicht daran, diese Erwartungshaltung während des viertägigen Deutschland-Aufenthalts des Papstes wieder und wieder zu bekräftigen und schließlich den „Erfolg“ des Papstbesuchs daran zu messen. Noch während Benedikt XVI. sich am Abend des 25.09. zum Rückflug nach Rom rüstet, bilanziert im Bericht aus Berlin spezial der SPIEGEL-Autor Peter Wensierski, was die Reise des Papstes in sein Heimatland „gebracht“ habe: Enttäuschungen, verpasste Chancen, Stillstand. Auf der Habenseite allenfalls ein paar „stimmungsvolle Bilder“. Die Krise der katholischen Kirche sei so aber nicht zu überwinden. Kaum auszudenken, was hätte passieren müssen, damit ein Journalist vom SPIEGEL zu einem anderen Fazit käme…

Aber schalten wir noch einmal zwei Tage zurück: In seiner Predigt bei einem ökumenischen Gottesdienst mit Vertretern der evangelischen Kirche in Erfurt nimmt Papst Benedikt XVI. Bezug auf Erwartungen, er würde zu dieser Veranstaltung ein „ökumenisches Gastgeschenk“ mitbringen, und bezeichnet diese Erwartungen als „politisches Missverständnis des Glaubens“. Das ist eine durchaus profunde Aussage. Dass große Teile der deutschen Öffentlichkeit den Papst in erster Linie als einen Politiker wahrnehmen und beurteilen, liegt auf der Hand; und ganz unberechtigt ist das auch nicht, denn selbstverständlich hat das Papstamt auch seine politischen Aspekte. Dennoch kann es nicht deutlich genug betont werden, dass das Selbstverständnis des Papstes, der Maßstab und die Richtschnur seines Handelns letztlich nicht politisch, sondern religiös bestimmt sind; nicht ausgerichtet an Meinungsumfragen, Mehrheitsverhältnissen und Machbarkeitserwägungen, sondern an GOTT. Bei rechtem Hinsehen bzw. –hören kann man Klarstellungen zu diesem Punkt geradezu als roten Faden der diversen Ansprachen und Predigten Benedikts XVI.  in diesen Tagen ausmachen. Als Oberhaupt der katholischen Kirche sieht der Papst sich der katholischen Glaubenslehre mit ihrer fast zwei volle Jahrtausende umfassenden Tradition verpflichtet; ohne diesen Hintergrund müsste es in der Tat unverständlich bleiben, ja geradezu verbohrt wirken, wie wenig er seinen Kritikern entgegenzukommen bereit ist.

Nun kann man natürlich nicht verlangen, dass jeder, der am Papst und der Kirche etwas zu kritisieren hat, erst einmal katholische Theologie und Kirchengeschichte studieren soll, ehe er sich zu Wort meldet. In einer Demokratie, die das Recht auf freie Meinungsäußerung garantiert, versteht es sich von selbst, dass jeder, der in der Öffentlichkeit steht, auch öffentlicher Kritik ausgesetzt ist, und das Recht zur Kritik steht jedem zu, unabhängig von seinem Sachverstand. Dennoch wäre es für eine wirklich gedeihliche öffentliche Diskussion sicher wünschenswert, wenn der lautstark vorgetragenen Kritik ein Mindestmaß an ernsthafter Auseinandersetzung mit dem kritisierten Gegenstand vorausginge. In diesem Zusammenhang sei darauf verwiesen, was Benedikt XVI. im Vorwort zum ersten Band seines Buches Jesus von Nazareth schreibt: „Es steht […] jedermann frei, mir zu widersprechen. Ich bitte […] nur um jenen Vorschuss an Sympathie, ohne den es kein Verstehen gibt.“

Umso bedauerlicher, dass dieser „Vorschuss an Sympathie“ dem Papst zum Teil sogar innerhalb seiner eigenen Kirche verweigert wird. Wann immer der Papst oder die katholische Kirche zeitweilig im Fokus der Medien stehen, melden sich auch Vertreter einer Art innerkirchlicher „Oppositionsbewegung“ mit dem etwas anmaßend wirkenden Namen Wir sind Kirche zu Wort und mahnen Reformen an. Für die Medien sind solche „Dissidenten“ in den Reihen der katholischen Kirche begreiflicherweise ein gefundenes Fressen, zumal sie mit ihren liberalen Positionen zu Themen wie Zölibat und Frauenpriestertum, Ehescheidung und Homosexualität, Empfängnisverhütung und Abtreibung und mit ihren Forderungen nach mehr Ökumene und nach einer „Demokratisierung“ der Kirche ganz auf der Linie jener externen Kritiker liegen, die meinen, die katholische Kirche müsse „zeitgemäßer“ werden, „im 21. Jahrhundert ankommen“. Kein Wunder also, dass Vertreter von Wir sind Kirche gern und oft interviewt werden; und das Ergebnis sind Schlagzeilen à la „Papst enttäuscht viele Gläubige“.

Wie viele das nun wirklich sind, bleibt allerdings eine unbekannte Größe – gerade im Verhältnis zu den Hunderttausenden, die in Berlin, Erfurt, Etzelsbach und Freiburg mit dem Papst die Heilige Messe gefeiert, mit ihnen gebetet und mit ihm ihren Glauben bekannt haben. Laut Medienberichten waren dies:

  • bei der Messe im Berliner Olympiastadion (23.09.): rd. 60 000 Teilnehmer;
  • bei der Marianischen Vesper in Etzelsbach (24.09.): rd. 90 000 Teilnehmer;
  • bei der Messe auf dem Domplatz in Erfurt (25.09.): rd. 30 000 Teilnehmer;
  • bei der Gebetsvigil in Freiburg (25.09.): rd. 30 000 Teilnehmer;
  • bei der Messe auf dem Flughafengelände in Freiburg (26.09.): rd. 90 000 Teilnehmer.

In der Summe macht das also ca. 300 000 Personen, das beläuft sich auf rund 1,2% aller Katholiken in Deutschland – und das innerhalb von nur vier Tagen und trotz des Umstands, dass der Papst diejenigen Gegenden Deutschlands, in denen die meisten Katholiken leben, gar nicht besucht hat. Möglicherweise haben die Botschaften Benedikts XVI. also doch mehr Gehör gefunden, als das überwiegend von Kritik geprägte mediale Echo glauben machen will.

Oder geht es vielleicht gar nicht um Botschaften? Hat am Ende Peter Wensierski vom SPIEGEL Recht, wenn er die Anziehungskraft der genannten Veranstaltungen lediglich auf „stimmungsvolle Bilder“ zurückführt? – Ohne diese Frage eindeutig beantworten zu wollen oder zu können, möchte ich in diesem Zusammenhang doch betonen, dass Kirche nicht nur und nicht in erster Linie eine Organisation, ein „Apparat“ ist und dass ihre Botschaft nicht allein in theologischen Dogmen und ethischen Ge- und Verboten besteht; vor allem ist Kirche die Gemeinschaft der Gläubigen, und wenn der Besuch des Papstes hunderttausende Menschen dazu bewegt, zusammenzukommen, um gemeinsam ihren Glauben zu bekennen, gemeinsam zu Gott zu beten und gemeinsam die Eucharistie – Leib und Blut Jesu Christi – zu empfangen, dann ist das ohne Zweifel ein starkes Signal. Darum greift die nicht nur von Peter Wensierski geäußerte Einschätzung, „so“ sei die Krise der katholischen Kirche nicht zu überwinden, zu kurz. Sie wäre zu ergänzen durch die Feststellung, dass der Weg aus der Krise auch nicht allein durch äußerliche Reformen zu finden ist. Kirche als Organisation, als „Apparat“, ist wie jede andere Institution stets mit Fehlern und Schwächen behaftet und bedarf daher immer wieder der Reform. Noch weit mehr bedarf die Kirche aber des lebendigen Glaubens ihrer Mitglieder, und für diesen haben die Gläubigen, die in Berlin, Erfurt, Etzelsbach und Freiburg mit dem Papst gefeiert haben, ein starkes Zeugnis abgelegt.

Dienstag, 27. September 2011

Piratenbrief

Den unerwartet triumphalen Wahlsieg der Piratenpartei bei der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus habe ich mit sehr gemischten Gefühlen beobachtet. Einerseits finde ich diese Erweiterung des Parteienspektrums sehr interessant und kann mich einer gewissen Sympathie für die "Piraten" nicht erwehren; andererseits habe ich gegen einige Punkte ihres Programms erhebliche Vorbehalte. Das betrifft vor allem das Thema Religionspolitik. Daher habe ich am 21.09. einem der frisch gewählten Berliner Abgeordneten der Piratenpartei, Pavel Mayer, den folgenden Brief geschrieben:


Lieber Pavel Mayer

(ich bin einfach mal so frei, Dich zu duzen, obwohl ich Dich bisher nur von Wahlplakaten, aus dem Kaperbrief und neuerdings auch aus der Tagespresse kenne),

als Erstes einmal herzliche Glückwünsche zum Einzug ins Berliner Abgeordnetenhaus. Als Zweites nun aber zu dem Grund dafür, dass ich von den 15 in dieses Parlament gewählten Piraten speziell Dich anschreibe: Der Grund dafür ist, dass Dein Bild eben jenes Plakat und den damit korrespondierenden Textblock im Kaperbrief 07/2011 ziert, das bzw. der mich davon abgehalten hat, die Piraten zu wählen. Vielleicht liege ich falsch, wenn ich in Dir den Autor des betreffenden Texts und/oder so etwas wie den „religionspolitischen Sprecher“ Deiner Partei vermute; in diesem Fall kannst Du getrost die in meinem Brief noch folgenden „Du“-Ansprachen in Gedanken durch ein allgemeines „Ihr“ ersetzen, aber ich finde es ganz angenehm, mir beim Schreiben einen konkreten Ansprechpartner vorzustellen.
Damit auch Du eine Vorstellung davon hast, wer Dich hier anspricht, ein paar Worte zu mir: Ich bin 35 Jahre alt, Doktorand im Fach Deutsche Literatur an der Humboldt-Uni und außerdem Katholik. Und damit komme ich dann auch schon zur Sache.

Unter der Überschrift „Religion privatisieren jetzt“ schreibst Du gleich im ersten Satz: „Religion ist Privatsache.“ Mal ganz abgesehen davon, dass ich es schon als rhetorisch ungeschickt, wenn nicht unredlich, empfinde, etwas, das in der Überschrift als Forderung aufgestellt wird, gleich darauf als Tatsache zu deklarieren, möchte ich die Gültigkeit dieses Satzes doch sehr bezweifeln. Ich würde im Gegenteil behaupten, dass Religion – im Unterschied etwa zu einem dehnbaren Begriff wie „Spiritualität“ – ihrem Wesen nach eine öffentliche Angelegenheit ist; nicht nur, weil Religionsgemeinschaften (die ja nicht umsonst Gemeinschaften heißen) eine Reihe wichtiger gesellschaftlicher Funktionen wahrnehmen, sondern auch und vor allem, weil die Ausübung von Religion zu einem wesentlichen Teil öffentlich stattfindet. In Deinem nächsten Satz schreibst Du ja sogar selbst: „Zur Religionsfreiheit gehört, dass der Mensch seine Religion frei wählen, verbreiten [!] und ungestört auch öffentlich ausüben kann.“ Soweit völlig einverstanden. Aber dann: „Ebenso gehört dazu, seine religiöse Überzeugung für sich behalten zu dürfen oder religiöse Weltanschauungen abzulehnen.“ Und das, lieber Pavel – entschuldige, wenn ich das so unverblümt sage – ist falsch. Genau das umfasst das Grundrecht auf Religionsfreiheit nicht. Auf die Frage nach dem Recht, „seine religiöse Überzeugung für sich zu behalten“ – einem Ansinnen, das, wie oben angedeutet, dem Charakter von Religion als Bekenntnis ja tendenziell zuwiderläuft, aber okay, das sollte nicht Angelegenheit des Staates sein – komme ich im Zusammenhang mit der staatlichen Erfassung der Religionszugehörigkeit noch zurück; erst einmal zum Punkt der Ablehnung religiöser Weltanschauungen (und da verstehe ich Dich so, dass Du die prinzipielle Ablehnung jeglicher religiösen Weltanschauungen meinst). Eine solche ist nun tatsächlich erst einmal „Privatsache“, und wenn sie sich öffentlich artikuliert, ist sie durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung geschützt - dem aber gerade durch das Grundrecht auf Religionsfreiheit Grenzen gesetzt sind. Dieses Recht dient nämlich, auch wenn „Religionsfreiheit“ doppelsinnig klingen mag, dem Schutz der Religion(en) und nicht dem Schutz vor Religion. Diesen an sich recht einfachen Sachverhalt scheint mir Dein Text, ob gewollt oder nicht, zu verschleiern, und für mich mutet das wie ein rhetorischer Trick an: vorgeblich im Namen der Religionsfreiheit zu argumentieren, sich aber in Wirklichkeit gegen sie zu stellen.

Ich fühle mich an diverse Diskussionen zum Thema „Trennung von Staat und Kirche“ erinnert, wie ich sie vor allem im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um den Religionsunterricht an Berliner Schulen durchlitten habe. Unter dem Begriff „Trennung von Staat und Kirche“ kann man sich ja ganz unterschiedliche Dinge vorstellen: Wie mir scheint, verstehen nicht religiös gebundene Menschen darunter in erster Linie einen Ausschluss kirchlicher Einflussnahme auf staatliche Belange, wohingegen sehr kirchlich gesonnene Menschen darunter umgekehrt den Ausschluss staatlicher Einflussnahme auf kirchliche Belange verstehen könnten, was die Kirchen in letzter Konsequenz zu souveränen „Staaten im Staate“ machen würde – meinst Du das, wenn Du schreibst „Die innige Umarmung durch den Staat schadet auch den betroffenen Kirchen“? Irgendwie bezweifle ich das... Beides gibt es in Deutschland nicht, was man je nach Standpunkt begrüßen oder bedauern kann; dass das Verhältnis zwischen Staat und Kirchen auf der Basis von Verträgen geregelt ist, erscheint aber zumindest mir als ein fairer Kompromiss.
Ob man mit diesen Verträgen in allen Punkten einverstanden ist, ist natürlich eine andere Frage. Nehmen wir ruhig mal den Kirchensteuereinzug. Wieso ziehen die Finanzämter zusammen mit der Einkommenssteuer die Kirchensteuer für die evangelische und die katholische Kirche ein? Inwiefern sollten sie dafür zuständig sein? Die Frage, wie gesagt, ist durchaus berechtigt; aber die Aufregung darüber kann ich dann doch nicht so ganz verstehen. Natürlich könnte man von den Kirchen verlangen, dass sie ihre „Mitgliedsbeiträge“, wenn man so will, selbst einziehen. Aber wer hat durch die bestehende Regelung denn einen wirklichen Nachteil bzw. Schaden? Dass die Höhe der vom Einzelnen zu zahlenden Kirchensteuer sich nach derjenigen der Einkommenssteuer richtet, ist schließlich ohne Zweifel sehr „sozialverträglich“, und ich bezweifle, dass es den Kirchenmitgliedern lieber wäre, wenn sie zur Festsetzung ihres jeweiligen Kirchensteuerbetrags ihre Steuererklärung (oder ihren Steuerbescheid) bei der Kirche einreichen müssten. Wem dagegen die Kirchensteuer grundsätzlich nicht passt, dem steht ja - dank der Religionsfreiheit! - die Mitgliedschaft in einer breiten Auswahl nicht kirchensteuerpflichtigen Religionsgemeinschaften offen.
Was mich nun, wie angekündigt, zum Punkt der staatlichen Erfassung der Religionszugehörigkeit führt. Dieser Punkt ist ja vom Kirchensteuereinzug kaum zu trennen; ich zumindest bin staatlicherseits noch nie dazu aufgefordert worden, meine Religionszugehörigkeit anzugeben, außer eben in Steuerunterlagen. Und das betrifft ja „nur“ die Mitgleidschaft in der evangelischen oder der katholischen Kirche in ihrer Eigenschaft als Körperschaften des öffentlichen Rechts (sic!); ob man Atheist, Agnostiker, Jude, Muslim, Buddhist, Hindu oder naturreligiös ist, muss man meines Wissens nirgends angeben (ich lasse mich aber gern korrigieren, wenn ich mich irren sollte). Zudem garantiert ja gerade die Religionsfreiheit, dass niemandem aus seinem religiösen Bekenntnis Nachteile erwachsen dürfen; warum also sollte man seine Religionszugehörigkeit dem Staat verheimlichen wollen, wo doch, wie schon mehrfach betont, Religion ihrem Wesen nach Bekenntnis ist? - Zugegeben, religiöse Überzeugungen sind durchaus auch eine sehr persönliche Angelegenheit, und niemand sollte gezwungen sein, sie Jedermann auf die Nase zu binden, wenn er das schlicht nicht will. Aber, ich wiederhole mich: Einen solchen Zwang sehe ich in unserer Gesellschaft auch nirgends.
Dein Text im Kaperbrief gipfelt in der Feststellung, dass „60% der Berliner konfessionslos und nur 30% Christen sind“. – „Nur“ 30%? So arg wenig erscheint mir das gar nicht, und selbst wenn man unterstellt, dass darunter viele sein mögen, die über eine nominelle Mitgliedschaft hinaus wenig mit der Kirche „am Hut haben“ (wobei: Wofür zahlen die dann Kirchensteuer?), bleiben doch allemal zu viele Berliner übrig, als dass man sie einfach marginalisieren könnte. Nun frage ich mich: Von wem werden die in Berlin eigentlich politisch vertreten? Von SPD, Linken und Grünen bestimmt nicht, das haben die Kampagnen gegen das „ProReli“-Volksbegehren mehr als deutlich gezeigt. Wenn die Piraten es nun auch nicht tun, bliebe nur noch die CDU, aber wie heißt es doch so schön im Kaperbrief 07/2011: „Wir sind genauso Diebe und Räuber wie die aktuelle CDU christlich und die SPD sozial sind.“ Eben. (Freilich: Wenn man davon ausgeht, dass Religion Privatsache ist oder sein sollte, dann brauchen Christen als Christen natürlich auch keine politische Vertretung. Aber jetzt drehen wir uns im Kreis.)
Kurz und gut (oder eben nicht gut), es hat mich geärgert und ärgert mich weiterhin, dass die Piraten demselben stereotypen und in meinen Augen auch arg populistischen Antiklerikalismus huldigen wie Linke, Grüne und Teile der SPD (Wolfgang Thierse selbstverständlich ausgenommen) - und der, nebenbei bemerkt, in Deutschland eine lange und unselige Tradition hat. Und deswegen habe ich Euch nicht gewählt. Sondern die Grünen. Die sind zwar, wie gesagt, nicht weniger antiklerikal, aber von denen ist man ja nichts anderes gewöhnt.
Trotzdem viel Erfolg in der neuen Legislaturperiode wünscht

kingbear