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Sonntag, 5. August 2012

The Rabbit Diaries, Pt. II

Als meine Freundin Kati mich zwei Tage vor ihrer Abreise in die hohe Kunst der Kaninchenbetreuung einwies, sagte sie mir, der Stall müsse ungefähr alle drei Tage ausgemistet werden, "aber man riecht das dann auch". In dieser Hinsicht ist auf die lieben Tierchen wirklich Verlass: Als ich meinen Dienst als Kaninchensitter antrat, war die letzte Käfigreinigung gerade zwei Tage her; als ich am frühen Abend des nächsten Tages die Wohnung betrat, stellte ich schon im Flur fest: Oh ja, man riecht es.

Flockes und König Friedrichs luxuriöses Domizil besteht aus zwei baugleichen, miteinander verbundenen Käfigen; in dem einen schlafen sie, in dem anderen fressen und trinken sie und verrichten ihre Ausscheidungen. Das Gute daran ist, dass man den Käfig, in dem die Kaninchen schlafen, nicht putzen muss: Den halten sie selbst sauber. Allerdings frage ich mich, wie sie das hinkriegen. Besondere Intelligenz kann man den Kaninchen nämlich im Allgemeinen nicht nachsagen: Ständig fressen sie das Stroh, das eigentlich als Bodenbelag gedacht ist; Futter, das sie nicht mögen, versuchen sie zu vergraben; und andauernd verunreinigen sie ihr Trinkwasser, mit der Folge, dass sie es dann nicht mehr trinken mögen. Wobei, letzteres ist ja fast schon menschlich.

Glücklicherweise kommt Kaninchenkot in kompakten kleinen Kügelchen mit erfreulich niedrigem Ekelfaktor daher. Der Urin riecht dafür umso strenger. Aber das hat, wie gesagt, auch seine guten Seiten, denn auf diese Weise kann man schlechterdings nicht vergessen, dass der Käfig mal wieder ausgemistet werden muss. Und sich zweimal in der Woche zu dieser Arbeit aufzuraffen, ist so schlimm nun auch nicht. Allerdings unterlief mir bei meiner ersten Käfigausmistung gleich ein dämlicher Anfängerfehler: Ich hatte nicht beachtet, dass das Stroh beinahe alle war. Die beiden anderen Komponenten der Käfig-Innenausstattung - Streu und Heu - gibt's im Supermarkt, der von der Wohnung aus in zwei Minuten zu Fuß zu erreichen ist; aber ausgerechnet Stroh gibt es dort nicht. Auf Nachfrage erfuhr ich, dafür müsse ich in den Baumarkt. Um diesen sogleich aufzusuchen, war es aber schon zu spät, also beschloss ich, das als erste Amtshandlung am nächsten Morgen zu erledigen; eine Nacht, so hoffte ich, würden die lieben Kleinen es ja wohl ohne Stroh (bzw. nur mit einem kläglichen Rest) in ihrem Laufstall aushalten.

Ich stand also am nächsten Morgen extra früh auf, um am Baumarkt zu sein, sobald dieser die Pforten öffnete. Da ich in diesem riesigen Geschäft noch nie gewesen war und auf der Suche nach der Haustierabteilung nicht ewig herumirren wollte, dachte ich, frage ich doch einfach mal einen Mitarbeiter. Sprach gleich den ersten, der mir über den Weg lief, mit einem fröhlichen "Guten Morgen!" an; das war wohl die falsche Strategie, denn er zeigte keinerlei Reaktion und ging seiner Wege. Dann nicht, sagte ich mir und fand die Haustierabteilung tatsächlich auch ohne Hilfe recht schnell. Wünschte dennoch demonstrativ jedem und jeder Baumarktangestellten, der /die mir begegnete, einen guten Morgen, aber niemand reagierte. Auch die Kassiererin nicht. Man hat den Eindruck, die Arbeit in diesem Geschäft macht die Menschen nicht sonderlich froh. Der Besuch lohnte sich trotzdem, denn ich zog mit einem Kilo feinsten Bio-Strohs für nur zwei Euro nochwas von dannen. Wissen möchte ich aber mal, wie es zu verstehen sein soll, dass das Stroh (laut Packungsaufdruck) "nicht staubt". Wörtlich kann das nicht gemeint sein... hust! - Die gute Nachricht ist, dass die Kaninchen mir die verspätete Strohbeschaffung offensichtlich nicht übel genommen haben. Fühle mich von Tag zu Tag besser akzeptiert in ihrem Reich; am ersten Tag war ich da noch etwas skeptisch. Da kamen sie kaum aus ihrer Schlafhöhle heraus, und wenn doch, schlichen sie misstrauisch um die Kohlrabiblätter herum, die ich ihnen in ihre Fressecke gelegt hatte. Als ich dann aber - kurz bevor ich die Wohnung verließ, um wieder meine eigene aufzusuchen - beschloss, ihnen für alle Fälle noch etwas Trockenfutter zu geben, kamen Flocke und König Friedrich, kaum dass sie das Rascheln der Trockenfutterpackung hörten, angerannt und wackelten fröhlich mit den Ohren. Moral: Kaninchen sind wie Kinder. Da gibt man ihnen schönstes frisches Grünzeug, aber sie wollen Fast Food.

Nun gut, es mag bezeichnend sein, dass besonders das jüngere der beiden Kaninchen, König Friedrich, auf Fast Food steht. Das Schöne daran: Wenn er mit Fressen beschäftigt ist, lässt der sonst so scheue Friedrich sich manchmal sogar streicheln. Diese Erfahrung machte ich erstmals, als ich ihm ein paar Halme Heu aus dem Fell streichen wollte; ich war ausgesprochen gerührt, als er sich das ohne Murren gefallen ließ. Wenn man die Schale mit dem Trockenfutter von oben in den Käfig stellt, macht er manchmal sogar Männchen. Noch schöner ist es aber trotzdem, wenn die Kaninchen angehoppelt kommen, um das frische Gemüse zu fressen, das man ihnen in den Käfig legt. Klingt vielleicht banal, aber das hat etwas ausgesprochen Beglückendes.

Kurz, ich habe mich mit meiner vorübergehenden Lebensaufgabe ganz gut angefreundet - so gut, dass ich es fast schade fand, dass ich mich in den letzten Tagen gar nicht so viel um die Kaninchen habe kümmern müssen. Seit letztem Sonntagabend, und noch bis morgen früh, ist nämlich Logierbesuch aus Österreich in der Wohnung: eine junge Dame, die für eine Woche in Berlin Urlaub macht. Für die Dauer ihres Aufenthalts die Kaninchenbetreuung zu übernehmen, sei für sie kein Problem, sagte sie: Sie sei auf einem Bauernhof aufgewachsen und komme mit Tieren gut klar. Das hat sich als richtig erwiesen. Flocke und König Friedrich mögen sie so gern, da könnte man direkt eifersüchtig werden. Obwohl die lieben Tierchen somit in den besten Händen sind, bin ich ziemlich regelmäßig vorbeigekommen, um mal kurz nach dem Rechten zu sehen, und auch, damit die Kaninchen mich nicht gleich wieder vergessen. Ein bisschen stolz bin ich aber auch auf mich, dass ich - in Absprache mit Kati natürlich - das "Kaninchensitting" und die Bereitstellung einer kostenlosen Übernachtungsmöglichkeit für Katka so effizient unter einen Hut gebracht habe. Mal wieder zwei Leuten (plus zwei Kaninchen!) auf einmal geholfen! So etwas tue ich gern - ich weiß nicht, ist es meine Auffassung von praktiziertem Christentum, bin ich einfach nett, oder genieße ich es, gelegentlich mal ein Held sein zu dürfen? Wahrscheinlich ist es ein bisschen was von alledem.

Derweil habe ich es mir natürlich auch nicht nehmen lassen, der Rolle des Kaninchens in der Literatur weiter nachzugehen. Ein Standardwerk wäre hier selbstverständlich Alice im Wunderland, aber das kennt man ja. Weitaus weniger bekannt ist dagegen der Roman Im Schillingshof der vielfach zu Unrecht als "Kitschtante" und Urmutter des trivialen Frauen- bzw. Liebesromans abgestempelten E. Marlitt (d.i. Eugenie John, 1825-1887); in diesem überraschend vielschichtigen und auch historisch interessanten Roman gibt es eine Sequenz, die womöglich von Alice im Wunderland beeinflusst ist (Im Schillingshof erschien 1879, zehn Jahre nach der ersten deutschsprachigen Ausgabe von Carrolls Roman): José Lucian, ein engelsgleicher Knabe, der mit Mutter, Schwester, Tante und zwei schwarzen Dienstboten aus dem Süden der USA nach Deutschland gekommen ist, spielt im Garten des Schillingshofs mit seinem weiße Kaninchen - "Er setzte das Tierchen behutsam in das Gras und kauerte sich daneben. Mit sanften Händen streichelte er das seidenweiche Fell; er sah entzückt in die seltsamen rotglühenden Augen und beobachtete aufmerksam das Spiel der Ohren" -, als der boshafte, tierquälende Nachbarsjunge Veit Wolfram, der durch die Hecke gekrochen ist, auftaucht und José verspottet:
"Ach, der dumme Kerl! Der Einfaktspinsel! er denkt Wunder was er hat - 's ist ja ein ganz gewöhnliches Karnickel - weißt du das denn nicht?"
Das Kaninchen ergreift prompt die Flucht; José will ihm nach, fühlt sich aber gleichzeitig auf fatale Weise von dem dämonischen Veit angezogen: "José hatte bis dahin nie einen Spielgefährten gehabt, und nun stand da plötzlich einer vor ihm, der wundervoll klettern konnte, der mir nichts dir nichts durch stachlige Zäune kroch und die imponierende Thatsache wußte, daß das Kaninchen eigentlich nur ein Karnickel war." So lässt sich José von Veit auf das Nachbargrundstück locken - "Ich will dir meine Lapins zeigen. Da wirst du gucken! Die sind freilich anders, als dein schauderhaftes Stallkarnickel" - und stellt fest: "Das war nun eine ganz andere Welt, jenseits des struppigen Zaunes". Ein Wunderland Carrollscher Qualität ist es freilich nicht; tatsächlich erwarten den kleinen José auf dem Dachboden des Nachbarhauses allerlei Schrecknisse: Die "wüste, sonnenheiße Dachkammer, in der alles aufgestapelt wurde, was sich als dienstuntauglich erwies", enthält neben allerlei teilweise Jahrhunderte altem Gerümpel "auch die halbentkleideten, kopflosen Puppenbälger, die einst die jüngsten Töchter des Wolframschen Hauses, die flachshaarigen Mägdlein der armen Frau Rätin, gewiegt und geherzt hatten"; der grausige Unterton, den diese Erinnerung an Wolframs unerwünschte Töchter, denen einst nur der Ausweg blieb, "sich vor dem gestrengen Vater in dunkle Winkel zu verkriechen, bis sie nach kurzem Dasein die hellockigen Köpfchen erlöst und friedfertig auf das weiße Kissen des Totenschreins betten durften", schon durch den verstümmelten Zustand der Puppen erhält, wird noch gesteigert dadurch, dass der boshafte Veit kurz zuvor angesichts eines Körbchens voller neugeborener Kätzchen erklärt hat: "Werd's gleich dem Papa sagen; Fritz muß sie heute noch ersäufen – das gibt allemal einen Hauptspaß!" (ISch, S. 182)

In dieser eindrucksvollen Romanpassage zeigt sich geradezu exemplarisch die symbolische Bedeutung des Dachbodens in der bürgerlichen Literatur, die Margret Rothe-Buddensieg in ihrer Studie Spuk im Bürgerhaus beschrieben hat - allerdings ohne dabei auf Im Schillingshof einzugehen:  Im bürgerlichen Haushalt ist der Dachboden,

"im Gegensatz zu dem durch die Lagerung von Speisen und Getränken noch mittelbar in die Nutzung einbezogenen Keller, nicht mehr Funktionsraum wie noch im Bauernhaus. Er ist Aufbewahrungsort für veraltetes Inventar, für mehr oder weniger ehrwürdige Ruinen eines abgelebten Lebens im Hause wie auch für Dinge, deren Erinnerung aus der Wohnsphäre des Hauses verdrängt wurde. Er ist eine Sphäre des Vergessens und des Vergessenen, das dort überdauert" (Rothe-Buddensieg, S. 3).

Was lernen wir nun daraus? Schwer zu sagen. Aber mitteilen wollte ich meine kaninchenbezogenen Lesefrüchte dann doch mal...

Ab morgen werde ich dann also wieder erheblich mehr Zeit mit den Kaninchen verbringen als in der zurückliegenden Woche, und ich bin gespannt, zu was sie mich noch so inspirieren werden. So oder so dürfte es demnächst aber mal wieder Zeit für einen Blogbeitrag mit religionspolitischem Inhalt sein...

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