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Freitag, 28. September 2012

Jubiläumsbeitrag: Wie ich Teil der Blogoezese wurde

Wie den meisten - oder jedenfalls vielen - meiner Leser bekannt sein dürfte, wurde in diesem Jahr zum zweiten Mal der Schwester-Robusta-Preis der deutschsprachigen Blogoezese verliehen. Nominierung, Abstimmung und Preisverleihung hielten die katholische Blogger-Community über Wochen und Monate in Atem, und am Ende gab es einige Überraschungen - auch und nicht zuletzt für die Ausgezeichneten selbst. Einige Blogger und Bloggerinnen, die sich selbst eher für Außenseiter innerhalb der Blogoezese gehalten hatten, durften sich über eine oder sogar mehrere Medaillen freuen.

Bei der reinen Freude blieb es allerdings nicht in allen Fällen. Es liegt ja auf der Hand, dass Selbsteinschätzungen à la "Ich hätte gedacht, um hier einen Preis zu gewinnen, wäre ich gar nicht [...] genug" (für "[...]" wäre wahlweise einzusetzen: "papsttreu", "mundkommunionmäßig" - schöne Wortschöpfung übrigens! -, "marianisch", "altrituell", "ultramontan" oder auch einfach "strenggläubig") zugleich auch eine Einschätzung darüber enthalten, wie "die" Blogoezese im Großen und Ganzen so sei. Und offenkundig liegt darin auch ein Element der Distanzierung und Kritik. Äußerungen der hier skizzierten Art in den Blogs einiger Robusta-Medaillengewinnerinnen lösten daher teilweise recht hitzig geführte Debatten aus. Letztlich wurde dadurch aber nur umso deutlicher, dass die katholische Blogger-Community in sich selbst viel heterogener und pluralistischer ist, als Pauschalurteile von Außenstehenden - "die stramm rechtskatholische sogenannte Blogoezese", so war es unlängst in einer Online-Diskussion zu lesen - es vermuten lassen würden. Und trotz einzelner scharfer Töne offenbarte sich in den internen Auseinandersetzungen über die genannten Selbst- und Fremdeinschätzungen schließlich doch weitreichende Einigkeit darüber, dass es für allerlei durchaus unterschiedliche Positionen einen legitimen und sinnvollen Platz innerhalb der Blogoezese gibt.

Für mich als relativen Neuling in der Blogoezese geht diese Beobachtung allerdings mit der Frage einher, wo in diesem recht breiten Spektrum ich mich eigentlich selbst einordnen würde. In diesem Zusammenhang ist mir obendrein aufgefallen, dass ich mich bei meinen "Nachbarn im Netz" noch gar nicht richtig vorgestellt habe. Ich bin auf einem Dorf in Niedersachsen aufgewachsen, und da ist es üblich, dass neu Zugezogene erst einmal in der Nachbarschaft die Runde machen, gern mit einem Tablett voller Schnapsgläser. Das habe ich zu tun versäumt; da aber gerade das einjährige Bestehen meines Blogs ansteht, denke ich, es ist ein guter Zeitpunkt, das nachzuholen. Den Schnaps werden sich meine Leser, so sie denn einen möchten, allerdings wohl selbst einschenken müssen.

Beginnen wir mal so: Wenn ich rekapituliere, wie ich vor nunmehr einem Jahr zum Bloggen gekommen bin, dann stellt sich mir gleich als Allererstes die Frage: wieso eigentlich nicht schon viel früher? Schließlich bin ich in meinem persönlichen Umfeld als ausgesprochen "meinungsfreudiger" Mensch bekannt, der im Allgemeinen auch großen Wert darauf legt, seine Meinung anderen Menschen mitzuteilen. Auch und gerade, wenn es kontroverse Meinungen sind, und nicht zuletzt, wenn es um religiöse und/oder religionspolitische Themen geht. Im Grunde hätte ich schon vor Jahren auf die Idee kommen können, ein Blog wäre genau das Richtige für mich.

Dem stand allerdings im Wege, dass ich von Haus aus wenig computer- oder gar internetaffin bin bzw. war. Der Computerfachmann in meiner Familie war von  jeher mein Bruder, ich interessierte mich mehr für Bücher. Lange Zeit hatte ich nicht mal eine eMail-Adresse. Im Laufe meines Studiums entdeckte ich selbstverständlich bald den Nutzen des Internets für Recherchezwecke, benutzte es aber erst einmal fast ausschließlich zu diesem Zweck; das so genannte Web 2.0, definiert als Gesamtheit der "benutzergenerierten" Inhalte im Netz, blieb mir noch lange ein Buch mit sieben Siegeln. Über Blogs wusste ich erst einmal nur, dass sie eine Art "öffentliche Tagebücher" sein sollten, und ich sah absolut nicht ein, weshalb ich mich dafür interessieren sollte. Noch viel weniger ahnte ich etwas von der Existenz einer katholischen Blogoezese - obwohl ich so um das Jahr 2009 herum ein paar Beiträge auf Rom, Römer, am Römsten, dem damaligen Blog des Herrn Alipius, zu Gesicht bekam: die fand ich zwar durchaus lesenswert, aber das blieb ein punktueller Eindruck, zum regelmäßigen Blogleser wurde ich damals nicht.

Dafür, dass ich schließlich doch einen eigenen Blog (ja: Ich sage und schreibe "der Blog" statt "das Blog"; habe festgestellt, dass ich da nicht der Einzige bin, und sehe daher nicht die Notwendigkeit, mich umzugewöhnen) eröffnete, bedurfte es denn auch erst einmal eines Anstoßes von außen. Während des Wahlkampfs zur letzten Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses war die Piratenpartei in meinem persönlichen Umfeld das Gesprächsthema schlechthin; meine eigene Haltung gegenüber dieser Partei pendelte zunächst zwischen diffuser Sympathie und ebenso diffusen Vorbehalten, und die sehr originelle und auffällige Plakatkampagne der Piraten hatte an beidem ihren Anteil. Bis ich eines Tages an einer Bushaltestelle in Berlin-Hohenschönhausen Gelegenheit hatte, das Piraten-Plakat zum Thema Religionspolitik näher in Augenschein zu nehmen -- und mich darüber zu ärgern. Ein paar Tage später ließ ich mir die Wahlkampfzeitung der Piraten, den Kaperbrief, in die Hand drücken, las darin mehr zum Thema und ärgerte mich noch mehr. Kurz nach der Wahl, am 21.09.11, schrieb ich eine eMail an den auf dem besagten Plakat abgebildeten Vertreter der Piratenpartei, Pavel Mayer, in dem ich den für das Thema Religionspolitik quasi "zuständigen" Ansprechpartner vermutete. In meiner Mail kritisierte ich die religionspolitischen Thesen der Piraten und erklärte, dass und warum diese für mich der ausschlaggebende Grund gewesen seien, die Partei nicht zu wählen.

Eine Antwort erfolgte nicht - bis heute nicht, übrigens -, aber wenig später stieß ich bei einer Google-Recherche zu den Begriffen "Piratenpartei" und "Religion" auf die Seite von Rainer Klute, einem bekennenden Christen in den Reihen dieser Partei - er ist aktives Mitglied der Freien evangelischen Gemeinde Dortmund. Bei allen Vorbehalten, die ich gegenüber den "Freievangelischen" habe - und ich kenne mich da ein bisschen aus, ich habe einige Verwandte, die dieser Konfession angehören -, war ich doch gespannt, was der Herr Klute über die religionspolitische Ausrichtung seiner Partei denkt, und leitete meine an Pavel Mayer gerichtete Mail am 24.09. an ihn weiter. Noch am selben Tag erhielt ich Antwort: Rainer Klute schrieb mir, er sehe "vieles genauso" wie ich, und kündigte eine Stellungnahme dazu auf seinem Blog an - die ebenfalls noch am selben Tag erschien. In diesem Zusammenhang teilte er mir mit, falls mein Text irgendwo online sei, würde er ihn gern verlinken. Dies gab mir den entscheidenden Anstoß zur Einrichtung meines Blogs - den ich dann am 27.09.11 mit ebenjenem Schreiben an Pavel Mayer, erweitert um einen kurzen Einleitungstext, eröffnete.

Ich gab meinem Blog den Titel "Huhn meets Ei (hey hey, my my)" - angelehnt an eine Textstelle des großartigen Neil Young-Songs "Hey Hey, My My (Into the Black)":

"There's more to the picture /
Than meets the eye /
Hey hey, my my..."

-- und natürlich auch anspielend auf die uralte philosophische Grundfrage "Was war zuerst da...?". Diese Überschrift schien mir gut geeignet, eine große thematische Vielfalt darunter unterzubringen - da ich mir die Freiheit bewahren  wollte, in meinem Blog über alles schreiben zu können, wonach mir gerade der Sinn stand. Dass ich auch die nicht gerade Wenigen unter meinem persönlichen Freunden und Bekannten, die mit Religion oder gar der Katholischen Kirche wenig bis nichts "am Hut haben", für meinen Blog interessieren zu können hoffte, spielte dabei durchaus auch eine Rolle. Wie es sich fügte, hatten dann aber auch meine nächsten Blogbeiträge einen ausgeprägten religionspolitischen Schwerpunkt.

Als ein Problem erwies es sich allerdings bald, meinem Blog die gewünschte öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen. Dass Rainer Klute meinen ersten Beitrag wie versprochen in seinem Blog verlinkte, verhalf meiner Seite zu einer für einen völligen Web 2.0-Neuling immerhin ganz ermutigenden Zahl von Zugriffen, aber bei den nächsten Beiträgen flaute das Interesse dann wieder spürbar ab. Recht bald kam ich auf die Idee, meinen bis dahin kaum aktiv genutzten Facebook-Account zu nutzen, um für meinen Blog zu werben, aber natürlich musste ich erst einmal meine allgemeine Facebook-Aktivität erheblich erhöhen, um da überhaupt ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit zu erregen. Auf den Rat einer Freundin hin meldete ich mich zudem auch noch bei Twitter an, aber da bestand anfangs natürlich dasselbe Problem. Daneben behalf ich mir einstweilen damit, einzelne Blog-Artikel, wo es thematisch passte, in Online-Diskussionsforen zu verlinken - mit recht durchwachsenen Ergebnissen: Die beiweitem größte Resonanz erzielte ich damit, dass ich im Karl May & Co-Forum auf meine Rezension der zu diesem Zeitpunkt frisch erschienenen May-Biographie von Rüdiger Schaper hinwies. Auf die naheliegende Idee, das probateste Mittel zur Erlangung von mehr Publizität im Netz könne die Interaktion mit anderen Bloggern sein, kam ich zunächst nicht - was wohl mehr als bezeichnend für meine totale Web 2.0-Unerfahrenheit war.

Zum "Erstkontakt" zwischen Huhn meets Ei und der Blogoezese, von deren Existenz ich wie gesagt noch gar nichts ahnte, kam es denn auch eher zufällig. Am 08.02. erschien in meinem Blog ein Artikel über das Skandalstück Gólgota Picnic (bzw. über die Reaktionen darauf, denn das Stück selbst hatte und habe ich, bis auf einige im Fernsehen gezeigte Ausschnitte, nicht gesehen) unter dem Titel Die Brötchen des Bösen - Eine Hamburger(-)Passion. Kaum hatte ich diesen Beitrag veröffentlicht, da bekam ich Lust, mal zu schauen, was andere darüber schreiben - und fand einen Artikel auf St. Dymphnas Gedankenwelt mit dem Titel Mein Gott, mein Gott, warum hast Du Breulmann verlassen. Es handelte sich um eine scharfe Kritik an den Äußerungen des Jesuitenpaters Hermann Breulmann über Gólgota Picnic; da ich Breulmanns Stellungnahme in meinem Artikel ebenfalls zitiert, dabei aber entschieden andere Schwerpunkte gesetzt hatte, dachte ich mir, stell' ich das mal zur Diskussion, indem ich meinen Beitrag im Kommentarbereich von St. Dymphna verlinke. In der Folge avancierten Die Brötchen des Bösen nicht nur zum bis dahin meistgelesenen Beitrag meines Blogs, sondern ich konnte auch meine ersten Abonnenten verzeichnen - durchweg Blogger, die den betreffenden Artikel auf St. Dymphnas Gedankenwelt ebenfalls, und schon vor mir, kommentiert hatten. Deren Blogs schaute ich mir - sofern sie öffentlich zugänglich waren - daraufhin ebenfalls mal an, zog aber zunächst keine weitergehenden Konsequenzen.

Einige Monate später, zufälligerweise an meinem Geburtstag, erfuhr ich via Twitter, dass in Freiburg gerade ein "katholisches Bloggertreffen" stattfinde. Aus einer Laune heraus, und natürlich nicht ganz ernst gemeint, twitterte ich daraufhin: "Katholisches Blogger-Treffen in Freiburg: Wieso hat mich niemand eingeladen?! ;)" Dieser Tweet war an niemand Bestimmten adressiert, ich schickte ihn einfach aufs Geratewohl in die weite Twitter-Welt hinaus - aber offenbar gelangte er doch an die richtige Adresse, denn binnen Kurzem konnte ich ganze drei Teilnehmer dieses Bloggertreffens als "Follower" meines Twitter-Accounts begrüßen. Frechheit siegt...

Seither ging es spürbar bergauf mit meinen Twitter- und Facebook-Kontakten und auch mit den Besucherzahlen meines Blogs. Am 01.07. teilte der Predigtgärtner mir mit, er habe Huhn meets Ei in seine Liste katholischer Blogs aufgenommen, und hieß mich somit als Mitglied der deutschsprachigen Blogoezese willkommen. Und dann ging alles Schlag auf Schlag: Nominierung für den Schwester-Robusta-Preis; Aufnahme in die Facebook-Gruppe Blogoezese 2012; Einrichtung eines RSS-Feeds zur Verlinkung meiner Blogbeiträge auf der Facebook-Gemeinschaftsseite der Blogoezese; und im Zuge all dessen natürlich jede Menge Gelegenheit zum Kontakt mit anderen Bloggern. Ich muss sagen, ich bin beeindruckt und bewegt von der freundlichen Aufnahme, die mir und meinem Blog zuteil geworden ist. Ich blogge seitdem auch mehr als früher, wenn auch längst nicht so regelmäßig wie einige andere.

Wenn ich sage, dass es mich zwar überrascht hat, wie ich bzw. mein Blog quasi ohne bewusstes eigenes Zutun von der Blogoezese adoptiert wurde, dass ich mich in diesem Umfeld aber ausgesprochen wohl fühle, dann fallen mir allerdings im nächsten Moment die eingangs erwähnten Einschätzungen über die Blogoezese wieder ein, und ich frage mich, was - beispielsweise - meine Freunde vom Domino-Stammtisch oder diejenigen, die mich in erster Linie in meiner Eigenschaft als DJ kennen, dazu sagen würden, das ich einer "stramm rechtskatholischen" Gruppierung angehöre. Aber was genau ist eigentlich mit "rechtskatholisch" gemeint? Ist das lediglich eine Positionsbestimmung innerhalb des Katholizismus, oder bezieht sich der Wortbestandteil "rechts" auch auf die allgemeinpolitische Einstellung? Ist es, anders ausgedrückt, schon "rechtskatholisch", wenn man dem Forum deutscher Katholiken näher steht als dem Zentralkomitee deutscher Katholiken, wenn man dem Papst und der lehramtlichen Tradition eine höhere Autorität in Glaubensfragen zuerkennt als "kritischen Theologen" à la Küng, Drewermann, Ranke-Heinemann oder Hasenhüttl, wenn man Forderungen nach Abschaffung des Zölibats und Einführung des Frauenpriestertums seine Unterstützung versagt und lieber für seinen Bischof betet, als gegen ihn zu demonstrieren - oder muss ein echter "Rechtskatholik" zugleich auch Euroskeptiker und Islamphobiker sein, staatliche Sozialleistungen für eine Entmündigung des Bürgers halten, mit Sarrazin-Thesen sympathisieren, verschwörungsdenkerisch über die angebliche linke Meinungsdiktatur der "Mainstreammedien" lamentieren, alles, was politisch links von der CSU steht, als sozialistisch oder kommunistisch diffamieren, die Partei "Die Linke" beharrlich "SED" nennen und gleichzeitig den Rechtsextremismus verharmlosen oder relativieren? Und hat das eine irgendetwas mit dem anderen zu tun? - Einen ursächlichen Zusammenhang, eine Art "Zwangskopplung" nach dem Muster "je konservativer in Glaubens- und Kirchenangelegenheiten, desto 'rechter' auch die allgemeine politische Gesinnung", möchte ich jedenfalls bestreiten. Dergleichen gäbe zwar ein hübsch kompaktes Feindbild für linke Kirchen- und Religionskritiker ab, und wer die Blogoezese partout so sehen will, der wird in ihren Reihen sicherlich auch das eine oder andere Fallbeispiel ausfindig machen können, das dieser Annahme zumindest teilweise entspricht - wird dafür aber auch eine Reihe von Gegenbeispielen ignorieren müssen. Was mich selbst betrifft, so sehe ich mich durchaus nicht als "Rechtskatholiken" an; aber das ist natürlich relativ, da die Wahrnehmung von "rechts" und "links" eben vom eigenen Standpunkt und der eigenen Blickrichtung abhängt. Aus der Sicht innerkirchlicher "Reform"-Bewegungen à la Wir sind Kirche etwa erscheinen meine Ansichten sicherlich als erzkonservativ - was mich aber kaum davor bewahren wird, dass dieselben Ansichten beispielsweise aus der Perspektive von kreuz.net oder der Piusbruderschaft als modernistisch und relativistisch angesehen werden dürften. Mit beidem kann ich allerdings recht gut leben. Ebensowenig bereitet es mir Schmerzen, dass ich in vielen politischen Fragen erheblich weiter links stehe als ein Teil meiner Mit-Blogoezesanen. Einige Blogs reizen mich praktisch jedesmal, wenn sie sich zu politischen Fragen äußern, zum Widerspruch; das macht aber nichts, zumal ich auch in diesen Blogs dann immer wieder Beiträge entdecke, die ich anregend, interessant und gut finde und gern weiterempfehle. Und schließlich können auch Meinungsverschiedenheiten ausgesprochen fruchtbar sein. Alles in allem ist es gut, in den Weiten des Netzes nicht allein zu sein.

In diesem Sinne:
Auf gute Nachbarschaft!
Prost!

P.S.: Zum eingangs erwähnten Stichwort "mundkommunionmäßig" hätte ich auch noch etwas Persönliches zu sagen, aber dazu lieber demnächst mal ein eigenständiger Beitrag...

Sonntag, 23. September 2012

"A pocket full of what?"

Ich hab so Einiges mit beigegeben,
Was irre macht. 
Man nennt es apokryph.

Karl May 
 
Ich habe ja schon an anderer Stelle einmal das Tagebuch eines frommen Chaoten von Adrian Plass erwähnt; da ich dieses Buch sowohl auf deutsch als auch im englischen Original (The sacred Diary of Adrian Plass, aged 37 3/4) besitze, kann ich sagen, dass es ziemlich gut übersetzt ist - trotz einer Eigenart des Autors, die jeden Übersetzer vor erhebliche Herausforderungen stellt: Er hat ein ausgeprägtes Faible für Wortspiele, die im Grunde unübersetzbar sind. Dazu zählt das Hobby des Sohns des Ich-Erzählers, Anagramme aus Personennamen zu basteln, aber auch der running gag, dass eine stark schwerhörige alte Dame aus der Kirchengemeinde des Erzählers, Mrs. Thynn, ständig Dinge falsch versteht. Der deutsche Übersetzer Andreas Ebert stellt sich den daraus resultierenden Schwierigkeiten redlich und wacker - während Anagrammkünstler Gerald im Original den Namen des 70er/80er-Jahre-Popsängers Alvin Stardust zu "I trust vandals" umformt, wird in der deutschen Fassung aus Michael Jackson "Naja, Milchsocke" -, aber es liegt auf der Hand, dass er einen Witz bestenfalls durch einen ähnlich gelungenen anderen Witz ersetzen kann. Der Originalwitz geht in jedem Fall verloren.

Dieser Verlust ist naturgemäß umso schmerzlicher, wenn im Original nicht einfach nur ein Lacher intendiert ist, sondern der Witz einen tieferen, durchaus ernsthaften Sinn enthält. So etwas in die Übersetzung hinüberzuretten, ist beinahe ein Ding der Unmöglichkeit.

So heißt es in der deutschen Ausgabe des Tagebuchs auf S. 95:
"Fühlte mich [...] während Edwins Vortrag über die Autorität der Bibel motorisch unterschäftigt. Lebte nur etwas auf, als Edwin gegen Ende sagte, einige Bücher der Bibel seien Apokryphen[,] und Mrs. Thynn mit lauter Stimme rief: 'Besser abgegriffen als eingestaubt!'"
Was aber steht an der entsprechenden Stelle im Original (S. 91)?
"Felt occupationally naked during Edwin's talk on the authority of the Bible. Slightly enlivened at the end when Edwin said that some books were apocryphal, and old Mrs. Thynn said in a very loud voice: 'A pocket full of what?'"
Und man kann sagen, was man will - da wirft die schwerhörige alte Mrs. Thynn eine recht profunde Frage auf: Was ist denn nun wirklich drin in der großen, bunten Wundertüte der Apokryphen?

Zunächst ist hier wohl eine Begriffsklärung am Platz: im katholischen und im evangelischen Sprachgebrauch wird der Begriff "Apokryphen" durchaus unterschiedlich verwendet. Genauer gesagt werden evangelischerseits einige Bücher des Alten Testaments als Apokryphen eingestuft, die von der Katholischen Kirche zum biblischen Kanon gezählt werden - konkret: die Bücher Judit, Weisheit, Tobit, Jesus Sirach, Baruch, 1. und 2. Makkabäer sowie Teile der Bücher Ester und Daniel. Die Ursache für diese unterschiedliche Einstufung liegt darin, dass die genannten Texte zwar in der griechischen Septuaginta, nicht aber im hebräischen Tanach enthalten sind. Bezüglich des Kanons des Neuen Testaments sind sich Katholiken und Protestanten hingegen einig; Abweichungen gibt es hier lediglich in einigen kleinen orientalischen Kirchen, etwa der Syrisch-Orthodoxen Kirche, die den 3. Korintherbrief als kanonisch ansieht.

Schon bei den Namen der zahllosen Apokryphen zum Alten und Neuen Testament kann einem schwindlig werden: Das Testament Adams. Die Apokalypse des Henoch. Das 3. und 4. Buch Esra. Das 3. und 4. Buch der Makkabäer. (Nicht jedoch das 6. und 7. Buch Mose;  die unter diesem Namen kursierenden Texte sind Zauberbücher, die erst in der Neuzeit entstanden sind.) Das Evangelium der Eva. Das Evangelium des Judas. Das Kindheitsevangelium nach Thomas dem Israeliten. Zum Teil haben die Apokryphen eine durchaus beachtliche Rezeptionsgeschichte, die sich u.a. in Dichtung und bildender Kunst niederschlägt; hier wäre etwa das Nikodemus-Evangelium zu nennen, in dem u.a. die Höllenfahrt Christi geschildert wird. Man kann sagen, dass einige Apokryphen durchaus Teil der christlichen Tradition sind, ohne allerdings den Status Heiliger Schriften zu genießen; andere apokryphe Schriften wurden im Laufe der Kirchengeschichte als häretisch verworfen, d.h., es wurde festgestellt, dass sie Irrlehren enthalten. Dies gilt v.a. für Schriften aus dem Umfeld der Gnosis, der wohl bedeutendsten häretischen Bewegung in der Frühzeit des Christentums.

Für Religionshistoriker und Altorientalisten sind die Apokryphen sicherlich ein hochinteressantes Feld. Dass sich das Interesse an diesen Texten jedoch nicht auf solche Kreise beschränkt, ist schon daran abzulesen, dass es von zahlreichen apokryphen Schriften nicht nur wissenschaftliche Editionen, sondern auch für eine breitere Öffentlichkeit gedachte Leseausgaben gibt, die gern Titel wie Die andere Bibel tragen. Dieser Titel ist ausgesprochen bezeichnend für die Interessenlage des angepeilten Publikums: An einer anderen Bibel dürften vor allem jene interessiert sein, die mit der Bibel, so wie sie ist, nicht recht zufrieden bzw. einverstanden sind. Die Apokryphen zum Alten Testament sind aus diesem Blickwinkel freilich tendenziell weniger spannend oder brisant als jene zum Neuen Testament, apokryphe Evangelien zumal, von denen es nicht gerade wenige gibt: neben den bereits genannten etwa noch das Ägypter-, das Ebioniten- und das Hebräerevangelium, das Evangelium des Bartholomäus, der Maria, des Petrus - und wer weiß, was sich sonst noch so alles im ägyptischen Wüstensand verbirgt. Jedenfalls sind solche Texte bei Kirchen- und Christentumskritikern enorm beliebt, weil sie vermeintlich "beweisen", dass Jesus "in Wirklichkeit" ganz anders gewesen sei, als die christlichen Kirchen es lehren. Ein politischer Revolutionär etwa. Oder Vegetarier. Oder verheiratet. Oder schwul. Oder er habe die Kreuzigung überlebt. Habe nie behauptet, der Sohn Gottes zu sein. Habe zumindest nicht die Absicht gehabt, eine Kirche zu begründen. Oder falls doch, dann sei nicht Petrus sein designierter Nachfolger gewesen, sondern Judas. All diese Thesen lassen sich mehr oder weniger schlüssig untermauern, je nachdem, welchen Text man zu Rate zieht; fraglich bleibt dabei nur, weshalb man irgendwelchen obskuren, oft nur in einem einzigen Exemplar oder nur in Fragmenten und noch dazu nur in Übersetzungen überlieferten Texten aus dem 2.-4. Jh. eine größere oder auch nur annähernd ebenbürtige Glaubwürdigkeit zusprechen sollte als bzw. wie den wesentlich früher entstandenen und wesentlich besser überlieferten kanonischen Evangelien.

Diese Frage ist allerdings nicht schwer zu beantworten, wenn man sich ein bisschen mit Verschwörungstheorien auskennt: Aus verschwörungstheoretischer Sicht spricht gerade der kanonische Charakter der vier uns allen bekannten Evangelien gegen ihre Glaubwürdigkeit. Für den Verschwörungstheoretiker ist Wahrheit per definitionem das, was ihm bzw. der Öffentlichkeit verborgen, verschwiegen, vorenthalten wird. Ob Kaspar Hauser, Anastasia, JFK oder 09/11: Die 'offizielle Version' kann schon deshalb  nicht wahr sein, weil sie die offizielle Version ist. Die Wahrheit steht nicht in den Geschichtsbüchern und nicht in amtlichen Untersuchungsberichten; die Wahrheit ist "irgendwo da draußen". Zum Beispiel im Internet.

Nun ist aber ausgerechnet die Geschichte des Christentums, speziell in seiner katholischen Ausprägung, von jeher ein Lieblingskind der Verschwörungstheoretiker. In jeder beliebigen Kneipe kann man es erleben, dass ansonsten durchaus intelligente, gebildete und vernünftige Menschen in vollem Ernst erklären, es sei doch allgemein bekannt, dass der biblische Kanon von der Kirche gefälscht worden sei. Der naheliegende Einwand, wenn das tatsächlich allgemein bekannt sei, dann könne die Unterdrückung der Wahrheit durch die böse, böse Kirche ja nicht besonders gut funktioniert haben, richtet gegen diese Überzeugung in der Regel wenig aus.

Manch einer erinnert sich vielleicht noch an den Film Stigmata aus dem Jahr 1999, in dem die von Patricia Arquette gespielte Protagonistin einen Rosenkranz geschenkt bekommt, der früher einem im Ruf der Heiligkeit stehenden brasilianischen Priester gehört hat, und daraufhin von Visionen gepeinigt und mit den Wundmalen Christi gezeichnet wird; eine Madonnenstatue, die blutige Tränen weint, kommt auch im Film vor. Am Ende stellt sich heraus, dass all diese Phänomene letztlich nur dazu dienen sollten, das apokryphe Thomasevangelium, das von der Kirche aus Angst vor dem Verlust ihrer Autorität geheimgehalten worden sei, der Weltöffentlichkeit bekannt zu machen. Den Machern des Films erschien es vermutlich als besonders clever, kein fiktives Evangelium ins Zentrum ihres etwas überkonstruierten Plots zu stellen, sondern einen tatsächlich existierenden Text, nämlich eben das in einer koptischen Übersetzung aus dem 4. Jh. überlieferte, 1945 in Nag Hammadi entdeckte gnostische Thomasevangelium, das im Film auch zitiert wird. Die Fiktion, dieser Text werde vom Vatikan unter Verschluss gehalten und es bedürfe allerlei paranormalen Trullalas, um die Schrift der Vergessenheit zu entreißen, wirkt zwar reichlich albern, wenn man bedenkt, dass dieses apokryphe Evangelium schon längst öffentlich zugänglich war, aber man darf wohl davon ausgehen, dass der Großteil der Kinozuschauer tatsächlich erst durch Stigmata etwas von der Existenz des Thomasevangeliums erfahren hat.

Der Film Stigmata ist somit geradezu ein Paradebeispiel für die verschwörungstheoretische Sicht auf die Apokryphen: Apokryphen sind Texte, die von der Kirche, als das Christentum im 4. Jh. Staatsreligion im Römischen Reich wurde, aus dem biblischen Kanon verbannt wurden, weil sie die Wahrheit enthalten, und deren Existenz der Vatikan über Jahrhunderte aller Welt verheimlicht hat. Das Schöne an dieser erstaunlich verbreiteten Fabel ist, dass sie - wie jede gute Verschwörungstheorie - für die, die daran glauben, ihre Evidenz in sich selbst trägt. Wer ihr widerspricht, sie gar widerlegen zu können meint, der ist Teil der Verschwörung, steckt mit den vatikanischen Finsterlingen unter einer Decke, ist von ihnen bestochen oder wird von ihnen erpresst. Darum hält die in dieser Hinsicht arg leichtgläubige Weltöffentlichkeit auch stets den Atem an, wenn wieder einmal bislang unbekannte Handschriften aus frühchristlicher Zeit entdeckt werden, und erwartet unweigerlich, dass nun endlich Wahrheiten ans Licht kommen, die die kirchliche Lehre gefälligst in ihren Grundfesten erschüttern sollen. Was ist nicht alles über die 1947 bei Chirbet Qumran am Toten Meer entdeckten Schriftrollen geschrieben worden - so etwa von den umtriebigen Sensationsjournalisten Michael Baigent und Richard Leigh, bei deren Publikationen sich der Bestsellerautor Dan Brown so ungeniert für seine Thriller bediente, dass sie einen Plagiatsprozess gegen ihn anstrengten? (Wenig Aufmerksamkeit wurde dabei der Tatsache zuteil, dass Baigent und Leigh mit ihrer Klage gegen Brown implizit den fiktionalen Charakter ihrer Arbeiten eingestanden, denn hätten sie authentische Fakten referiert, dann wären diese ja wohl kaum als ihr geistiges Eigentum anzusehen.) Tatsächlich ist von dem, was Baigent/Leigh und in ihrer Nachfolge nicht nur Dan Brown, sondern auch viele andere Autoren über die Qumran-Rollen geschrieben haben, so ziemlich alles falsch: Nicht nur ist es Unsinn, dass die Veröffentlichung der Schriftrollentexte vom Toten Meer vom Vatikan behindert worden sei; die Behauptung, große Teile der Qumran-Texte seien noch unveröffentlicht, war schon beim Erscheinen von Baigent/Leighs Buch Verschlusssache Jesus (1990) unwahr (und ist es heute erst recht); vor allem aber enthalten die Schriftrollen nichts von den sensationellen Enthüllungen über Jesus Christus und die Entstehung des Christentums, die Baigent/Leigh sich zusammenfabuliert haben - genauer gesagt enthalten die Rollen gar nichts zu diesem Thema, was auch kaum möglich wäre, da sie nach Einschätzung der meisten seriösen Wissenschaftler im Wesentlichen aus vorchristlicher Zeit stammen. Aber was macht das schon? Baigent/Leigh und ihre Nachbeter stützen sich schließlich nicht auf die veröffentlichten, sondern auf die unveröffenlichten Qumran-Schriften - die sie erstens gar nicht kennen können und die es zweitens gar nicht gibt. So erkennbar an den Haaren herbeigezogen das alles ist, im Bewusstsein der Öffentlichkeit bleibt doch eine ganze Menge davon hängen; was einem oft genug wiedererzählt wird, gilt irgendwann als wahr - zumal sensationelle Enthüllungen in aller Regel eifriger gelesen werden als nüchterne Richtigstellungen.

In kleinerem Maßstab war dieses Phänomen jüngst erneut zu beobachten: Auf einem Kongress in Rom stellte Harvard-Wissenschaftlerin Karen L. King ein Papyrus-Fragment aus dem 4. Jh. vor, das sie von einem anonymen privaten Sammler erhalten hat und dessen koptische Inschrift die Worte enthält: "Jesus sagte zu ihnen: 'Meine Frau'". Zwar betonte Ms. King mehrfach, aus diesem Papyrusfetzen lasse sich kein Beweis dafür ableiten, dass Jesus verheiratet gewesen sei; die Medien störte das aber wenig: Landauf, landab wurde getitelt "Hatte Jesus eine Frau?", "War Jesus verheiratet?", "Jesus hatte möglicherweise eine Frau", "Papyrusfetzen weist auf Ehefrau von Jesus hin" und so weiter. Dass eine koptische Inschrift aus dem 4. Jh. letztlich keinerlei Beweiswert in Hinblick auf den historischen Jesus hat und haben kann, wurde in den diversen Presseberichten zwar meist verschämt eingeräumt, im Kleingedruckten so zu sagen; aber im Großen und Ganzen bemühten sich die meisten Texte darum, den gegenteiligen Eindruck zu erwecken. Denn wenn die Inschrift über den historischen Jesus gar nichts aussagt, was ist sie dann noch wert? Laut Ms. King kann die Inschrift darauf hindeuten, dass es im frühen Christentum immerhin Fraktionen gab, die glaubten, Jesus sei verheiratet gewesen; das allerdings ist nun überhaupt nichts Neues. Da trägt man dann lieber etwas dicker auf; und Leute, die nicht so genau lesen und als Beweis gelten lassen, was kein Beweis ist und sein kann, wird es immer geben. Reaktionen, die den Papyrusfund - nicht ohne Häme - gegen den Zölibat und gegen den Ausschluss von Frauen vom Priesteramt ins Feld führten, ließen nicht auf sich warten.

Angesichts der Vorhersehbarkeit dieser Reaktionen mag man die Frage stellen, welches Interesse hinter der Veröffentlichung dieses Papyrusfragments steht, das bisher in einer privaten Sammlung vor sich hin schlummerte. Man mag einwenden, wenn das Fragment echt sei, dann sei die Frage nach der Intentionalität der Veröffenlichung irrelevant. Nun gut. Mit der Echtheit ist es aber so eine Sache. Dass bzw. ob das Papyrus und seine Inschrift tatsächlich aus dem 4. Jahrhundert stammen, dürfte sich mit wissenschaftlichen Methoden nachweisen lassen; aber der fragmentarische Charakter des Texts gibt zu denken. Dass von einer Papyrusrolle nur ein kleiner Fetzen die Jahrhunderte  überdauert, ist nicht so selten; unter den Papyrusfunden von Qumran etwa befanden sich neben einigen zum Teil meterlangen Rollen auch Fragmente, die sogar noch kleiner sind als das nun der Öffentlichkeit vorgestellte. Bemerkenswert ist aber, dass der Text gerade an der Stelle abbricht, wo's spannend wird. "Jesus sagte: 'Meine Frau'" - und weiter? Nichts weiter. Wäre das Fragment noch um eine Winzigkeit kleiner, hätte auch das Wort hime ("Frau") gefehlt, wäre die ganze Debatte nicht entstanden; ginge der Text an dieser Stelle noch weiter, würde womöglich deutlicher, ob der Jesus des Texts tatsächlich von einer leibhaftigen Ehefrau spricht oder etwas ganz anderes meint. Komischer Zufall, nicht? Dass der Sammler, in dessen Besitz sich das Papyrus bislang befunden hatte, partout anonym bleiben will, trägt ebenfalls nicht gerade dazu bei, Zweifel daran auszuräumen, dass der Text womöglich gezielt verstümmelt wurde - nicht unbedingt von Karen King, aber von irgendjemandem, der des Koptischen mächtig ist. Zugegeben, das ist spekulativ. Aber ein bisschen spekulieren wird man ja wohl dürfen. Tun die Anderen ja auch.

Letztendlich steht zu erwarten, dass das "Meine Frau"-Papyrus noch eine Weile durch die Medien geistern und bei manch einem die Überzeugung verfestigen wird, Jesus sei tatsächlich verheiratet gewesen (vorzugsweise mit Maria Magdalena) und die Kirche verheimliche dies in böswilliger Absicht; und dann geht man irgendwann wieder zur Tagesordnung über. Bis zum nächsten sensationellen Handschriftenfund.

Donnerstag, 6. September 2012

Nichts Neues unter der ökumenischen Sonne

Als ich noch in die Herz-Jesu-Kirche in Berlin-Prenzlauer Berg ging, saß in der Heiligen Messe mehrmals Wolfgang Thierse hinter mir. Das bemerkte ich erstmals, als ich einmal dachte "Wer singt denn da hinter mir so schaurig?", mich verstohlen umdrehte und feststellte: Schluck! Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse! Nun ja: Singe, wem Gesang gegeben;  mangelnde Melodiefestigkeit ist nun wirklich nichts, was man einem Menschen zum Vorwurf machen kann oder sollte. -- Dass Thierse just diese Kirche mit seinem sonntäglichen Besuch beehrte, mag ganz einfach dadurch bedingt gewesen sein, dass er in ihrem Einzugsbereich wohnt oder wohnte - das weiß ich nicht, aber jedenfalls liegt sie in seinem Wahlkreis. Vielleicht hatte es aber auch noch andere Gründe: Die Pfarrei Herz Jesu, zu der auch die Kirche St. Adalbert in der Torstraße gehört, beherbergt das von der Gemeinschaft Chemin Neuf betriebene Ökumenische Zentrum Net for God, das neben anderen Aktivitäten zur Förderung der Einheit der Christen auch allwöchentlich ein Morgenlob ausrichtet, in dessen Rahmen bevorzugt für die Überwindung der Kirchenspaltung gebetet wird. -- Dass die Ökumene Herrn Thierse ein wichtiges Anliegen ist, ist allbekannt; und dass er für die Einheit der Christenheit noch mehr tun möchte als beten, ist vom Ansatz her sicher löblich. Nun aber hat ihn die Ungeduld gepackt: Mit 22 anderen Prominenten aus Politik, Medien und "Gesellschaft" (oder was immer so genannt wird) gehört er zu den Protagonisten der Initiative Ökumene Jetzt!, die am gestrigen Mittwoch einen Aufruf zur Auflösung des gesamten römisch-imperialistischen Staatsapparats innerhalb von 24 Stunden... äh nein: zur sofortigen Überwindung der Kirchenspaltung, mindestens in Deutschland, veröffentlicht hat. Da dieser Aufruf schon einige Zeit im Voraus angekündigt worden war, kursierten allerlei Spekulationen darüber, was in dem Papier wohl konkret drinstehen mochte, und die katholische Blogoezese stand schon seit Tagen in den Startlöchern, um möglichst umgehend angemessen auf den Aufruf zu reagieren, wenn er denn vorläge. Da mochte ich auch nicht zurückstehen und führte mir das Schreiben zum (für mich) frühestmöglichen Zeitpunkt zu Gemüte - aber dann fand ich den Text derart lahm und nichtssagend, dass mir rein gar nichts dazu einfiel.

Der Blogoezese insgesamt fiel hingegen eine ganze Menge dazu ein (hier eine Übersicht); die Lektüre einiger (längst nicht aller) dieser Beiträge trug zwar dazu bei, meine Meinung zu den Thesen von Thierse & Co. zu schärfen, zugleich aber auch dazu, dass ich dachte, na, wenn es schon so viele andere tun, muss ich vielleicht nicht zu dem Thema bloggen. Ich beschränkte mich daher auf ein paar Kurz-Statements auf Twitter, aber es zeigte sich bald, dass ich so billig nicht davonkommen würde. Nachdem ich nämlich den Beitrag von Vincentius Lerinensis  - der in meinen Augen sehr präzise auf den Punkt bringt, warum die Thesen des Ökumene Jetzt!-Aufrufs aus katholischer Sicht schon vom Ansatz her unannehmbar sind - auf Twitter verlinkt hatte, erhielt ich von einem evangelischen Pfarrer den Bescheid: "Sorry, aber wer nicht in der Lage ist zwischen katholisch und römisch zu unterscheiden, sollte einfach den Mund halten." Das mochte ich so nicht stehen lassen, und prompt war ich mittendrin in einer heißen Debatte, in die sich zunächst ein katholischer Krankenpfleger einschaltete - der sich zwar als "alternder Punkrocker" beschreibt und obendrein Mitglied der Piratenpartei ist, aber (kann man sagen "dennoch", oder verrät das unangemessene Vorurteile?) in seinen Twitter-Beiträgen nicht selten seine Treue zur Katholischen Kirche betont -, und dann ein Student der katholischen Theologie, der, formulieren wir mal vorsichtig, ein etwas anderes Verständnis von katholischer Glaubens- und Überzeugungstreue hat. Es wurde spät, und schließlich diskutierte ich zu meinem Leidwesen nur noch mit Letzterem, der (wenn ich ihn denn richtig verstanden habe) argumentierte, die katholische Ekklesiologie sei ein unhaltbares Konstrukt und dürfe daher kein Hindernis für die Ökumene sein. Oder so ähnlich. Unter Berufung auf sein Fachwissen als Kirchenhistoriker gab er mir mehr oder weniger durch die Blume zu verstehen, ich könne da gar nicht mitreden, und obendrein warf er mir vor, "Dritten fehlende Rechtgläubigkeit zu unterstellen", was er "anmaßend und blasphemisch" finde. Vergrätzt brachen wir die Debatte schließlich ab, feuerten noch je ein Schlussstatement in den digitalen Äther ab (er: "Es gibt kein besseres Mittel für Verwirrung und Abneigung zu sorgen, als mit Fakten um sich zu schmeißen"; ich: "Es bereitet mir einfach Schmerzen, wenn Katholiken sich permanent öffentlich gegen ihre eigene Kirche positionieren"), und vermutlich hielt er mich am Ende für genauso arrogant und verbohrt wie ich ihn.

Jedenfalls hatte ich nach dieser Debatte so richtig schlechte Laune.

Vor dem Zubettgehen griff ich noch zu dem vor Kurzem erworbenen Interview-Buch Gott und die Welt (Joseph Ratzinger im Gespräch mit Peter Seewald; Taschenbuchausgabe München 2008); und ohne dass ich es geplant oder auch nur geahnt hätte, stieß ich alsbald auf das Unterkapitel "Einheit der Christen" (S. 431-434). Ich war ausgesprochen frappiert, festzustellen, dass auf diesen wenigen Seiten bereits alles zu finden ist, was auf den Ökumene Jetzt!-Aufruf zu erwidern wäre. Ich zitiere einen kurzen Auszug:

"Nein, [...] die Einheit der Christen kann nicht durch irgendeinen politischen Coup hergestellt werden oder durch ein Schwert, das einen gordischen Knoten durchhaut. Es geht um lebendige Prozesse. Und es kann weder ein Papst noch ein Weltkirchenrat einfach sagen, liebe Freunde, jetzt machen wir's so! Der Glaube ist etwas, was in jedem lebendig und zutiefst verwurzelt und vor Gott verantwortet ist."

Mehr habe ich zum Thema Ökumene Jetzt! nicht zu sagen.

"Herz Jesu, ruf mich Du" - Von Heiligen und Hysterikerinnen

"Müde bin ich, geh zur Ruh'
Schließe beide Äuglein zu
Vater, lass die Augen Dein
Über meinem Bette sein.

Hab ich Unrecht heut gethan,
Sieh es, lieber Gott, nicht an
Deine Gnad und Jesu Blut
Macht ja allen Schaden gut."

Stellen wir uns vor: die Verfasserin dieser unsterblichen Verse, Luise Hensel, eine Schwippschwägerin von Felix Mendelssohn Bartholdy, nachts mit einem Spaten auf dem Friedhof von Dülmen in Westfalen. Wir schreiben das Jahr 1824. Luise steht am Grab einer schon zu Lebzeiten als Heilige verehrten stigmatisierten Nonne und fragt sich: Wie, um Gottes Willen, bin ich hierher gekommen?

Die Antwort ist ebenso einfach wie bizarr: Ihr Freund und Dichterkollege Clemens Brentano, das enfant terrible der Romantischen Schule, hat sie beauftragt, ihm die Hand der toten Nonne zu bringen. Luise hat eingewilligt, aber nun, am bereits offenen Grab - - und das Mondlicht so schaurig, und die Tote, Anna Katharina Emmerick, wie lebendig in ihrem Sarg – da packt die die Angst, und sie kann es nicht tun.

Was aber wollte Brentano mit der Hand einer toten Nonne?
-- Man kann nur spekulieren.

Brentano hatte seit fünf Jahren viel Zeit am Krankenbett der Emmerick verbracht. Jeden Freitag hatte sie Visionen von der Passion Christi und anderen Ereignissen der biblischen Geschichte, und Brentano protokollierte diese Visionen und brachte sie, literarisch aufgearbeitet, in Buchform heraus. Das bekannteste der so entstandenen Bücher, Das bittere Leiden unseres Herrn Jesu Christi, diente später als Vorlage für Mel Gibsons Film Die Passion Christi, aber weder Emmerick noch Brentano werden in den credits des Films genannt. Das ist kein Plagiarismus: Mel Gibson glaubt an die Echtheit dieser Visionen, und auf die Wahrheit gibt es kein Urheberrecht.

Brentanos Interesse an der stigmatisierten Nonne von Dülmen beschränkte sich jedoch nicht darauf, sie oder den Heiligen Geist als Ghostwriter zu nutzen. In seinem Ringen mit seinem eigenen Katholizismus war ihm die Emmerick gleichermaßen Objekt schwärmerischer Verehrung wie tiefer Skepsis. Um der letzteren Herr zu werden, unterwarf er die Nonne einer Reihe bizarrer Prüfungen: So ließ er sie Tierknochen, Haare seiner eigenen Kinder und Heiligenreliquien auseinandersortieren, um zu testen, ob sie über die Gabe der Hierognosie, des Erkennens heiliger Dinge, verfüge.

War diese Skepsis auch verantwortlich dafür, dass er die Hand der Toten in seinen Besitz bringen wollte? Wollte er sich von der Echtheit ihrer Stigmata überzeugen? Anna Katharina Emmerick, 1811 im Zuge der Säkularisierung aus ihrem Kloster vertrieben, hatte nicht nur Visionen, sondern trug auch die Wundmale Christi. Leider gehörte Westfalen ab dem Wiener Kongress zu Preußen, und Preußen schätzen dergleichen nicht. Wunder gefährden die öffentliche Ordnung. Darum hatten die preußischen Behörden ein Auge auf die Emmerick und versuchten sie des Betrugs zu überführen. Es gelang ihnen nicht.

Das spontane Auftreten der Wundmale Christi am Körper lebender Menschen – genannt Stigmatisation – ist ein häufigeres Phänomen, als man denken sollte, und es scheint tatsächlich überwiegend Frauen zu betreffen. Einige Fälle hat die Katholische Kirche als echt anerkannt, einige wurden als Betrug entlarvt, viele sind umstritten. Demnächst, am 21. Oktober, steht die Heiligsprechung einer Stigmatisierten an: Anna Schäffer, genannt "Schreiner-Nandl", wird zur Ehre der Altäre erhoben. Nandl, geboren 1882 im zur Diözese Regensburg gehörenden oberbayerischen Dorf Mindelstetten, verstorben 1925 ebendort, verbrachte den Großteil ihres Erdenwallens leidend. Als Kind wollte sie Nonne werden, nahm mit 13 Jahren eine Stelle als Dienstmädchen an, um die Aussteuer für den Eintritt ins Kloster aufzubringen. Als sie 18 war, erlitt sie bei einem Arbeitsunfall schwere Verbrennungen an beiden Beinen, wurde zur Frühinvalidin erklärt und blieb lebenslang ans Bett gefesselt. Fortan widmete sie ihr Leben dem Gebet, der Stickerei und dem Verfassen religiöser Lyrik und Prosa. An diesen Texten lässt sich ablesen, wie Nandl ihr schweres Leiden bewältigte, indem sie es als Sühneopfer und Teilhabe an der Passion Christi auffasste. Diese heroische Haltung im Angesicht unvorstellbarer Schmerzen – am 05.10.1925 stirbt Anna Schäffer nach 30 Operationen an Mastdarmkrebs – macht sie aus Sicht der Kirche zum Vorbild für alle Kranken und Leidenden; darin zeigt sich auch eine aktuelle Relevanz ihrer anstehenden Heiligsprechung vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um Sterbehilfe und pränatale Diagnostik. Aber zu einer Heiligsprechung gehören auch Wunder, und in der Tat: Auch Anna Schäffer trug die Wundmale Christi, und auch sie hatte Visionen, immer in der Karwoche. Schon zu ihren Lebzeiten wurde ihr Wohnort Mindelstetten zum Wallfahrtsort. Ihr letztes Gedicht datiert aus dem Jahr 1923:

"Herr, Deine Magd ist müde.
ole HHHole mich heim zur ewigen Ruh'.
Hienieden ist kein Friede.
Herz Jesu, ruf mich Du."

Karl Marx schrieb einmal, wenn Geschichte sich wiederhole, dann ereigne sie sich das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Dieses Gesetz bestätigt sich auch im Bistum Regensburg der 20er Jahre. Während sich in Mindelstetten Anna Schäffers Leidensweg dem Ende nähert, ereignet sich auch am anderen Ende der Diözese Wundersames: Im oberpfälzischen Konnersreuth lebt Therese Neumann, 16 Jahre jünger als Nandl und Dienstmagd wie diese. Ab 1918 treten bei ihr plötzlich Beschwerden auf, für die sich keine organischen Ursachen feststellen lassen: Lähmungserscheinungen, Epilepsie-ähnliche Anfälle, Sehstörungen, schließlich vollständige Erblindung. Aber am 23.04.1923, am Tag der Seligsprechung der Thérèse von Lisieux, kann sie plötzlich wieder sehen; als Thérèse von Lisieux am 17.05.1925 von Papst Pius XI. heilig gesprochen wird, verschwinden auch die Lähmungen. Die Diözese Regensburg hat ihr neues Wunder, aber damit nicht genug: Ab 1926 stellen sich bei Therese Neumann die Wundmale Christi ein, dazu Blutungen aus den Augen, besonders an Freitagen. Vor bis zu 5000 Zuschauern verfällt "Resl" in visionär-ekstatische Zustände, in denen angeblich Christus selbst aus ihr spricht; aber hatte nicht Papst Benedikt XIV. Mitte des 18. Jhs. erklärt "Eine Person, aus der der Heiland spricht, täuscht oder ist getäuscht"? Auch fällt es auf, dass, wenn Resl in ihren Visionen Auskunft über das Schicksal Verstorbener gibt – wer im Himmel, wer im Fegefeuer, wer in der Hölle sei –, das jenseitige Schicksal dieser Menschen ausschließlich davon abzuhängen scheint, wie sie zu Lebzeiten zu Therese Neumann gestanden haben. Ebenfalls ab 1926 nimmt Resl – so sagt sie, und so behaupten es ihr nahestehende Zeugen – außer der täglich empfangenen Eucharistie keinerlei Nahrung mehr zu sich. Aber vergessen wir nicht, es ist Mitte der 20er Jahre; sollte man da nicht annehmen, dass jedes Kind, vielleicht sogar Therese Neumann selbst, Karl Mays In den Schluchten des Balkan gelesen hat, wo Kara Ben Nemsi den "heiligen Mübarek" entlarvt? Hatte es nicht auch vom Mübarek geheißen, er nehme weder Trank noch Speise zu sich, und hatte er nicht der armen Nebatja weismachen wollen, er habe ihren verstorbenen Mann im Höllenfeuer schmoren sehen? Und doch war der Mübarek kein Heiliger, sondern ein ganz ordinärer Verbrecher. Nein, wer mit Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar rund 3000 Druckseiten lang durch das Reich des Großherrn geritten ist, der lässt sich von einer oberpfälzischen Bauernmagd nicht so leicht ins Bockshorn jagen!

Zweifel an der Echtheit der Wunder von Konnersreuth bleiben also nicht aus und werden durchaus lautstark vorgetragen, aber gleichzeitig wächst die Verehrung der Wundergläubigen für Resl Neumann ins Unermessliche, nicht nur unter der ungebildeten Landbevölkerung, sondern bis hinauf in höchste Kreise. Für die Kirche ein Dilemma. Die bayerischen Bischöfe, schließlich auch die römische Kurie dringen darauf, dass Resls Wundmale und ihre angebliche Nahrungslosigkeit in einer Klinik untersucht werden, aber die Familie Neumann verweigert dies. Der Verehrung durch die Wundergläubigen tut das keinen Abbruch; ebenso wenig lassen sie sich beirren, wenn Resl in ihren Visionen sich selbst widerspricht, trotz angeblicher Nahrungslosigkeit immer korpulenter wird oder wenn ihre freitäglichen Visionen immer häufiger ganz ausbleiben, was sie mit den bezeichnenden Worten begründet: "I will do a amal mei Ruh' hob'n!". Auch die NS-Zeit übersteht Resl unbeschadet, obwohl sie aus ihrer Abneigung gegen Hitler und seine Spießgesellen keinen Hehl macht. 1962, in dem Jahr, in dem die Beatles ihre erste Single veröffentlichen und der Schatz im Silbersee in die Kinos kommt, stirbt Therese Neumann an Herzversagen.

Schnell werden aus den Reihen der Resl-Verehrer Stimmen laut, die eine Seligsprechung der Stigmatisierten von Konnersreuth fordern; das zuständige Bistum Regensburg gibt sich solchen Forderungen gegenüber wohlwollend, hat es mit der Einleitung des Seligsprechungsverfahrens aber offenbar nicht eilig: Erst 2005 wird der Prozess offiziell eröffnet; ob er jemals erfolgreich zum Abschluss kommen wird, bleibt ungewiss.

Für Kritiker wie den Mediziner Josef Deutsch und den Priester und Religionslehrer Josef Hanauer – beides übrigens gläubige Katholiken, die stets betonten, mit ihren Warnungen vor der Stigmatisierten von Konnersreuth lediglich "Schaden von der Kirche abwenden" zu wollen – stand von jeher fest, dass Therese Neumann eine schwer hysterische Person war, kein Fall für die Ritenkongregation, sondern einer für die Psychiatrie. Skeptische Geister mögen an dieser Stelle auf den Gedanken kommen, auch anerkannte Mystikerinnen früherer Zeiten wären womöglich in der Psychiatrie gelandet, wenn es die damals schon gegeben hätte. Aber das ist, Skepsis hin oder her, eine recht zweischneidige Annahme. Sie kann bedeuten, dass viele vermeintliche Heilige vergangener Epochen in Wirklichkeit verrückt waren; sie kann aber ebenso gut bedeuten, dass viele vermeintlich Verrückte unserer Tage in Wirklichkeit heilig sind. Wer weiß, wie viele seherische Begabungen der Welt verloren gegangen sind, weil die betreffenden Personen den berühmten Rat Helmut Schmidts beherzigt haben:
"Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!"


[Nachbemerkung: Den vorstehenden Text habe ich für ein Bühnenprogramm geschrieben und am 01.09.2012 "uraufgeführt". Insbesondere der Schlussabsatz war darauf berechnet, solche Zuhörer, die von Heiligenverehrung und Wunderglauben prinzipiell nichts halten, zu verunsichern und/oder zu provozieren; im Ernst gesprochen glaube ich sehr wohl, dass es möglich sein sollte, echte mystische Phänomene von Symptomen psychischer Erkrankungen zu unterscheiden. Nicht zu leugnen bleibt aber wohl, dass allzu große Leichtgläubigkeit eine solche Unterscheidung ebenso erschweren kann wie allzu große Skepsis... Über den "Fall" Therese Neumann kann, solange das Seligsprechungsverfahren läuft, natürlicherweise kein abschließendes Urteil gefällt werden; bei mir allerdings überwiegen bis auf Weiteres die Zweifel.]

Sonntag, 2. September 2012

Bin ich 'ne Jukebox? Hab ich 'nen Geldschlitz in der Stirn?

Wie ich an anderer Stelle schon einmal erwähnt habe, bin ich, neben verschiedenen anderen Tätigkeiten, unter anderem auch DJ. Das hat sich, wie so vieles im Leben, auf komischen Wegen ergeben. Ein Bekannter von mir war DJ in meiner Lieblingsbar - genauer gesagt habe ich ihn dadurch kennen gelernt, dass er DJ in meiner Lieblingsbar war -, und eines Abends fragte er mich aus heiterem Himmel: "Sag mal, du kennst dich doch auch ganz gut mit Musik aus - hättest du nicht mal Lust, aufzulegen?" Ich konnte mich gerade noch zusammenreißen, nicht emphatisch auszurufen "Davon träume ich schon seit Jahren!", und antwortete lediglich gemessen, vorstellen könnte ich es mir schon. - Natürlich hatte er bei seiner Frage einen Hintergedanken. Er suchte eine Vertretung für einen Abend, an dem er auf ein Konzert gehen wollte. Aber wie dem auch sei, so kam ich zu meinem DJ-Debüt. Ich weiß noch genau, welches der allererste Song war, den ich auflegte: "Across 110th Street" von Bobby Womack.

An dieser Stelle muss ich anmerken: Von sich zu sagen, man sei DJ, kann von Fall zu Fall allerlei Missverständnisse heraufbeschwören; denn darüber, was genau ein DJ ist und tut, kursieren ausgesprochen unterschiedliche Vorstellungen. Zum Teil liegt das daran, dass der Begriff "DJ" in verschiedenen Subgenres und -kulturen der Populärmusikszene tatsächlich ganz unterschiedliche Tätigkeiten umfasst. Laut Wikipedia ist die Minimaldefinition von "DJ" "jemand [...], der auf Tonträgern gespeicherte Musik in einer individuellen Auswahl vor Publikum abspielt"; aber in bestimmten Musikrichtungen, vor allem HipHop und Techno, tut der DJ noch wesentlich mehr als das. Im frühen HipHop brauchte man für einen Live-Auftritt nicht viel mehr als einen oder mehrere Rapper und einen DJ, der mittels zweier Turntables den Instrumentaltrack beisteuerte und die Musik von der Platte live durch mechanische Effekte (scratching, backspin) verfremdete. Der technische Fortschritt, die Erfindung des Samplers, des Sequencers usw. usf. erweiterte die Möglichkeiten des DJs, sich an den ihm zur Verfügung stehenden Tonträgern kreativ auszutoben, ganz erheblich; von vielen Techno-DJs kann man sagen, dass sie die Tracks vom Tonträger nur noch als Rohmaterial benutzen, aus dem sie ganz neue Klänge kreieren - ihre Musikstücke entstehen tatsächlich erst in dem Moment, in dem sie gespielt werden.

Ich möchte daher gleich vorausschicken: Ich habe allen schuldigen Respekt vor DJs, die diese Techniken beherrschen und anwenden, aber meine Arbeitsweise ist da doch erheblich konservativer. Ich scratche nicht, ich loope nicht, ich fabriziere keine Bastard-Mixes oder MashUps, ich verfremde die Musik, die ich spiele, nicht mit abgefahrenen elektronischen Effekten; in der Regel verändere ich nicht einmal die Equalizer-Einstellungen. Ich wähle Songs aus und spiele sie so, wie sie sind; höchstens pitche ich mal eine langsame Nummer um 2-3% hoch, damit sie etwas mehr Schwung bekommt.

Diese Arbeitsweise bringt allerdings zwei Probleme mit sich, die genau besehen eng miteinander zusammenhängen: Da diese Art der DJ-Tätigkeit, verglichen mit der oben beschriebenen HipHop- und Techno-Akrobatik, rein technisch betrachtet nicht sonderlich kompliziert ist, bildet sich mancher ein, das könne ja jeder; und manch einer neigt dazu, einen mit einer lebenden Jukebox zu verwechseln. "Spiel' mal das und das!" Anfoderungen dieser Art, insbesondere, wenn sie nicht einmal als Bitte bzw. Wunsch formuliert werden, würde man am liebsten dadurch beantworten, dass man dem Betreffenden ein Bier ins Gesicht schüttet; was man dann in der Regel aber doch nicht tut, schon deshalb nicht, weil die kostbare Anlage ja was abkriegen könnte.

Wohlverstanden: Das Problem ist nicht, dass Gäste Musikwünsche haben und diese auch äußern. Dass Gäste ihre eigenen Vorstellungen davon haben, was für Musik sie hören wollen, ist ja ganz natürlich, und dass sie das auch artikulieren, ist mehr als legitim: Der DJ arbeitet ja nicht (nur) zu seinem eigenen Vergnügen. Die Musik soll den Gästen ja gefallen. Ideal ist es natürlich, wenn der DJ den Geschmack der Gäste trifft, ohne dass sie sich etwas wünschen müssen; aber das ist nicht immer möglich. Insofern können Musikwünsche aus dem Publikum eine wertvolle Orientierungshilfe sein. Mehr aber auch nicht. Ob, wann und in welchem Umfang der DJ die an ihn herangetragenen Wünsche erfüllt, muss ihm selbst überlassen bleiben; dafür ist er da. Andernfalls könnte man tatsächlich besser gleich eine Jukebox aufstellen.

-- Und warum tut man das dann nicht?

Nähern wir uns der Antwort auf diese gewichtige Frage über einen Exkurs, oder sagen wir: eine Exkursion - - in die Vergangenheit, in die Ära der guten alten Compact Cassette. Benjamin von Stuckrad-Barre, den ich ansonsten nicht so besonders schätze, hat ihr eine sehr hübsche Glosse ("Kassettenmädchen") gewidmet, Volker Wieprecht und Robert Skuppin besprechen die Compact Cassette ausführlich und liebevoll in ihrem auch sonst sehr lesenswerten Lexikon der verschwundenen Dinge. Wer wie ich in den 70er Jahren geboren ist, für den dürften die ersten Erfahrungen mit selbstbestimmtem Rock- und Popmusikgenuss untrennbar verbunden sein mit diesen heute schon wie Fossilien aus einem anderen Erdzeitalter anmutenden Magnetbandkassetten, die man in ebenso mühe- wie liebevoller Kleinarbeit mit Musik aus dem Radio bespielte. Ich habe noch einen ganzen Karton solcher Kassetten zu Hause, die ältesten dürften aus der Zeit stammen, als ich so zwölf, dreizehn Jahre alt war. Natürlich konnte man die Compact Cassette auch nutzen, um Musik von Schallplatte oder CD zu kopieren, sei es, um die Originaltonträger zu schonen, sei es, um die Musik auch unterwegs hören zu können, im Autoradio oder auf dem Walkman. (Zwar kam mit dem Siegeszug der CD irgendwann auch der Discman auf, aber das war eine ziemlich beknackte Erfindung. CDs eignen sich nicht zum mobilen Gebrauch, dafür sind sie, bzw. die Abspielgeräte, zu erschütterungsempfindlich.) - Aber ich schweife ab. Eigentlich will ich auf etwas anderes hinaus: Bei direkt aus dem Radio aufgenommener Musik war die Abfolge der Titel auf der Kassette naturgemäß weitestgehend zufällig. Erwischte man im Laufe eines langen vor dem Radio verbrachten Nachmittags endlich mal diese eine Nummer, die man schon so lange haben wollte - z.B. "Jack & Diane" von John Mellencamp, damals noch John Cougar -, dann konnte man sich nicht auch noch Gedanken darüber machen, ob die denn zu dem Lied passt, das davor auf der Kassette ist. Meistens passte es dann zwar doch irgendwie, aber eben nur "irgendwie". Richtig lustig wurde es daher erst, als man endlich ein Doppelkassettendeck bekam und anfangen konnte, die gesammelten musikalischen Schätze, ob sie nun aus dem Radio, von Platte oder CD kamen, neu zusammenzustellen. Heute erstellt man ja stattdessen Playlists auf dem MediaPlayer oder dem mp3-Stick, aber das ist nicht dasselbe; die haben eine Shuffle-Funktion, eine Kassette nicht, und deshalb kam es bei einer guten Mix-Kassette besonders auf die Reihenfolge der Titel an. Wie sowohl Stuckrad-Barre als auch Wieprecht/Skuppin hervorheben, verschenkte man selbst erstellte Mix-Kassetten gern an Mädchen, die oft weniger CDs besaßen und weniger breite Musikkenntnisse hatten als Jungs und die man so beeindrucken wollte; man konnte diese Kassetten aber natürlich auch für den Eigenbedarf zusammenstellen, abgestimmt auf eine bestimmte Hörsituation (beliebt z.B. das Genre "Autofahrkassette"), einen bestimmten Anlass oder eine bestimmte Stimmung. Wer das Erstellen von Mix-Kassetten selbst nie praktiziert hat, dem mag es zunächst als absurde Zeit-, Energie- und Rohstoffverschwendung erscheinen, Musiktitel, die man sowieso schon auf anderen Tonträgern hat, neu kombiniert auf Kassette zu kopieren; aber mit der nötigen Sorgfalt betrieben ist es ein nicht zu unterschätzender kreativer Akt. Aus als solches freilich bereits vorgegebenem Material "komponiert" man auf diese Weise musikalische Programme von bis zu 90 Minuten Länge (es gab auch 120-Minuten-Kassetten, aber die längere Spieldauer ging empfindlich zu Lasten der Qualität).

In gewissem Sinne war dieses Hobby bereits die Grundschule der DJ-Tätigkeit. Denn diese, wenn man so will, Kompilationsarbeit, die man früher im stillen Kämmerlein am Doppelkassettendeck leistete - Songs so zusammenstellen, dass sie ein stimmiges Gesamtprogramm ergeben -, leistet der DJ live. Was natürlich um einige Grade anspruchsvoller ist. Man muss schnell sein, muss also spontan und intuitiv handeln und dabei flexibel auf das Publikum reagieren, auf die allgemeine Stimmung und darauf, dass möglicherweise jemand im Publikum ist, der in seinen Geburtstag 'reinfeiert, sodass man pünktlich um Mitternacht Happy Birthday von Stevie Wonder einschieben muss. Dass ein guter DJ immer mehrere Züge voraus denkt wie ein Schachspieler, steht nicht etwa im Widerspruch zu dieser Flexibilität, sondern ist geradezu eine notwendige Voraussetzung dafür.

Musikwünsche aus dem Publikum können sich mehr oder weniger gut ins Konzept des DJs einfügen; manchmal wünschen sich Gäste sogar Songs, die der DJ sowieso schon in der Pipeline hat, und das ist dann ein sehr gutes Zeichen dafür, dass DJ und Publikum auf einer Wellenlänge schwimmen. Probleme gibt es erfahrungsgemäß mit zwei Sorten von Gästen: solchen, die einen sehr eng begrenzten Musikgeschmack haben, und solchen, die überhaupt keinen haben. Im direkten Vergleich sind die letzteren sogar noch schlimmer. Wer nur Heavy Metal, nur HipHop oder nur 80er-Jahre-Synthipop hören mag, der wird, zumindest in Berlin, unschwer Läden finden, in denen seinen Vorlieben entsprochen wird; da ist er unter seinesgleichen und braucht dem Rest der Menschheit nicht auf den Keks zu gehen. Eine Frau, die sich bei mir mal Wolfgang Petry gewünscht hat, habe ich höflich, aber unmissverständlich aufgefordert, sie möge doch bitte woanders hingehen; das hat sie dann auch gemacht.

Leute, die überhaupt keinen Musikgeschmack, mithin keinerlei echtes Interesse an und Verständnis für Musik haben, wird man hingegen weniger leicht los. Man mag sich fragen, warum die sich überhaupt Lieder wünschen, aber die Antwort ist einfach. Diese Menschen bewerten Musik danach, ob sie sie kennen. Auf Musik, die sie nicht kennen, reagieren sie mit Ungeduld. Dummerweise kennen sie, da sie eben kein genuines Interesse an Musik haben, in der Regel nur das, was den lieben langen Tag im Mainstream-Radio rauf und runter gedudelt wird. Dann entstehen Dialoge wie der folgende:
Gast: Spiel mal was von Rihanna!
DJ: Hab ich nicht.
Gast: Lady Gaga?
DJ: Auch nicht.
Gast: Äh... Shakira?
DJ: Nö.
Gast: Black Eyed Peas?
DJ: Nö.
[...]
Gast: Was bist du denn für'n DJ?
Die Antwort "Einer, der gute Musik spielt, für Leute, die gute Musik zu schätzen wissen" verkneift man sich, wenn man dereinst zu Bescheidenheit und Höflichkeit erzogen wurde. Folgt anstelle des letzten Satzes des Gastes der vermeintlich konstruktive Vorschlag "Hast du kein Internet hier? Kannst du das nicht von YouTube abspielen?", dann ist so langsam wirklich mal eine Bierdusche fällig. - Ein ebensolches Kapitalverbrechen ist es, nebenbei bemerkt, wenn ein Gast seinen mp3-Player zückt und den DJ auffordert, einen Song davon zu spielen.

Man könnte die hier geschilderten Sachverhalte natürlich auch lakonischer ausdrücken. Zum Beispiel so:



Diese Liste, die mir kürzlich via Facebook zu Gesicht kam (Dank an Yesterday Berlin!), gibt mir das wohlige Gefühl, hier nicht nur für mich selbst, sondern tatsächlich mehr oder weniger für die ganze Zunft zu sprechen. Zugleich machen diverse Punkte der Liste deutlich, dass mangelnder Geschmack nicht das Einzige ist, womit der liederwünschende Gast den DJ gegen sich aufbringen kann. Noch weitaus ärgerlicher, und zwar unabhängig von der Qualität des Musikwunsches, ist fehlender Respekt vor der kreativen Eigenleistung des DJs, oft gepaart mit einer arroganten Konsumentenhaltung, die sich auf das Motto "Der Kunde ist König" beruft, ohne zu berücksichtigen, dass auch Könige sich nicht alles erlauben dürfen. - Zum Teil scheint mir das ein spezifisch deutsches Phänomen zu sein. Ich lege hauptsächlich in einer Bar auf, die - bedingt durch ihre strategische Nähe zu mehreren preisgünstigen Backpacker-Hostels - viel von Touristen aus aller Welt besucht wird, und da habe ich beobachtet, dass es speziell im angloamerikanischen Raum üblich zu sein scheint, sich vor dem Verlassen der Bar beim DJ zu bedanken. Das tun sogar solche Gäste, die den ganzen Abend nicht getanzt haben, sich nichts gewünscht und auch sonst keine besondere Reaktion auf die Musik gezeigt haben. Der Deutsche verhält sich im Vergleich dazu eher wie die Wildsau in Lessings Parabel von der Eiche.

Der Aussage, ein DJ sei schließlich Dienstleister, ist im Grunde natürlich nicht zu widersprechen. Aber er ist eben nicht nur das, sondern zugleich auch Künstler. Und davon abgesehen: Auch Friseure und KfZ-Mechaniker, zum Beispiel, sind in gewissem Sinne Dienstleister, und trotzdem wäre der Kunde übel beraten, sie darüber belehren zu wollen, wie sie ihre Arbeit zu machen haben.

1998 veröffentlichte die britische TripHop/Dance-Formation Faithless (dieser Name...!) einen Song mit dem Titel "God is a DJ"; 2003 folgte ein gleichnamiger Song der US-Popsängerin P!nk. Ich fand diesen Songtitel immer irgendwie blöd und argwöhnte darin einen unbeabsichtigten Hinweis darauf, dass im Umkehrschluss DJs sich gern wie Gott fühlen (möchten). Aber irgendwie hat die Zeile dann wohl doch ihren Sinn. Schließlich erfüllt auch Gott nicht alle Wünsche. Wir sollen uns zwar mit unseren Bitten an Ihn wenden, aber wenn sie dann doch nicht in Erfüllung gehen, dann wird Er schon Seine Gründe dafür haben. Es würde wohl kaum jemand auf die Idee kommen, einen Song "God is a Jukebox" zu nennen...