Gesamtzahl der Seitenaufrufe

Sonntag, 12. Oktober 2014

Wo Zirkus Raum gewinnt

Gestern war ich Döner essen, bei mir um die Ecke. In diesem Imbiss liegt gewöhnlich der Berliner Kurier aus - eine Zeitung, die ich sonst nicht zu lesen pflege, aber wo sie schon mal vor meiner Nase lag, blätterte ich doch ein wenig darin, während ich auf mein Essen wartete. Dabei fiel mir eine Kurznotiz ins Auge, die vom geplanten oder zumindest angedachten Umzug eines Kinder- und Jugendzirkus in eine "ungenutzte Kirche" berichtete. Was mich daran verblüffte, war der Umstand, dass es sich bei dieser "ungenutzten Kirche" um St. Pius in der Palisadenstraße in Friedrichshain handeln sollte - die aber, wie ich aus persönlicher Erfahrung weiß, durchaus nicht "ungenutzt" ist: ich gehe dort meist sonntags in die Frühmesse, gelegentlich auch mittwochs in die Abendmesse. Zunächst nahm ich daher an, es handle sich womöglich um eine Verwechslung. Eine kurze Internetrecherche ergab jedoch, dass u.a. auch die Berliner Zeitung, die Welt und der Focus von einem möglichen Umzug des Kinder- und Jugendzirkus Cabuwazi in die Kirche St. Pius berichteten. Und überall war von einer "leerstehenden" Kirche die rede. Nun gut: Offenbar hatten alle diese Blätter dieselbe Agenturmeldung übernommen. Aber etwas verwunderlich fand ich es dann doch, dass es nicht einmal vor Ort ansässigen Zeitungen aufgefallen war, dass es sich mitnichten um eine leerstehende Kirche handelt. 

St. Pius war auf dem Gebiet des heutigen Stadtteils Friedrichshain die erste katholische Kirche seit der Reformation: Angesichts des rapide ansteigenden katholischen Bevölkerungsanteils wurde 1873, ausgerechnet auf dem Höhepunkt des "Kulturkampfs" in Preußen, die zunächst noch der Domgemeinde St. Hedwig zugeordnete Pius-Kapelle errichtet - offiziell benannt nach dem Hl. Papst Pius V., aber es ist einigermaßen offensichtlich, dass die Namensgebung auch mit Blick auf den damals amtierenden Papst Pius IX. erfolgte. Ab 1888 war St. Pius eine selbständige Pfarrgemeinde; das heutige Kirchengebäude wurde ab 1889 am Standort der bisherigen Kapelle erbaut und 1894 eingeweiht. Der weithin sichtbare, ursprünglich stolze 96 Meter hohe Kirchturm wurde 1958/59 um 30 Meter gekürzt, damit er die neu errichteten Bauten der Stalinallee nicht überragt. 
Im Jahr 2003 wurde St. Pius mit der benachbarten Pfarrei St. Antonius zusammengelegt, behielt aber den Status der Pfarrkirche. Derzeit wird dort dreimal in der Woche die Heilige Messe gefeiert. 

Und was hat es nun mit der Meldung auf sich, dass ein Zirkus in diese altehrwürdige Kirche einziehen soll? - Wäre ich am 28. September beim Kirchweihfest gewesen, hätte ich schon früher davon erfahren; so aber musste ich heute nach der Frühmesse erst einmal ein paar Gespräche führen, um mich zu informieren. (Es ist daher möglich, dass meine Informationen unvollständig und ungenau sind; für Korrekturen und Ergänzungen wäre ich ausgesprochen dankbar.) -- Ganz simpel ausgedrückt, ist die Pfarrkirche schlichtweg zu groß für ihre kleine Gemeinde geworden - und das nicht nur hinsichtlich der Quadratmeterzahl: Die Pfarrei hat sich nicht mehr in der Lage gesehen, die Betriebskosten und den erheblichen Renovierungsbedarf der Kirche zu stemmen - die Rede ist von Kosten in Höhe von zwei Millionen Euro -, und hat das Gebäude samt Grundstück daher zum symbolischen Preis von einem Euro an das Erzbischöfliche Ordinariat verkauft. 

Derweil wurde dem seit 20 Jahren existierenden Kinder- und Jugendzirkus Cabuwazi sein Zeltstandort am Ostbahnhof gekündigt. Cabuwazi, 1994 in Berlin-Treptow aus einem zwei Jahre zuvor spontan ins Leben gerufenen Einrad-Workshop entstanden und mittlerweile an fünf Standorten in verschiedenen Berliner Stadtteilen aktiv, versteht sich als "Jugendkulturbetrieb mit sozialen und pädagogischen Zielen", der sich u.a. der Gewalt- und Suchtprävention, der sozialen Integration, kulturellen Bildung und der individuellen Gesundheitsförderung widmet und laut Agenturmeldung "jährlich [...] 5000 Kindern aus bildungsfernen Familien die Chance zum Mitmachen" bietet. Im Stadtteil Friedrichshain  hatte der Zirkus bis November 2013 einen pachtfreien Nutzungsvertrag für ein der Post AG gehörendes Gelände am Ostbahnhof, aber dann verkaufte die Post das Grundstück, und der neue Eigentümer ist nicht bereit, die bisherige Regelung weiterzuführen. Somit stand das Friedrichshainer Standbein des Zirkus Cabuwazi nach über fünf Jahren praktisch vor dem Aus. Aber dann hieß es, das Erzbischöfliche Ordinariat "überlege", dem Zirkus die Piuskirche samt Grundstück zur Verfügung zu stellen. 

Aus Sicht des Zirkus wäre dies eine ausgezeichnete Lösung, nicht zuletzt auch angesichts der Nähe zum bisherigen Standort: 
"Der große Vorteil an der Kirche als neuer [sic] Standort sei, dass die Kinder aus dem Viertel hinter dem Ostbahnhof weiter zu Fuß zum Zirkus-Training kommen könnten. Außerdem ließen sich die Kooperationen mit den umliegenden Schulen gut fortsetzen." 
Dass gerade die Katholische Kirche sich des Standortproblems von Cabuwazi annimmt, scheint keinesfalls von ungefähr zu kommen: Der Kinder- und Jugendzirkus arbeitet schon länger auf verschiedenen Ebenen mit kirchlichen Einrichtungen zusammen. So leben am bisherigen Friedrichshainer Cabuwazi-Standort vier Schwestern der Gemeinschaft der Kleinen Schwestern Jesu und widmen sich dort der Obdachlosen-Seelsorge; im Stadtteil Marzahn betreibt der Zirkus seit 2005 gemeinsam mit den Salesianern Don Boscos und den Schwestern der Hl, Maria Magdalena Posel (SMMP) ein Berufsqualifizierungs- und Orientierungsprojekt für Jugendliche

Ist der mögliche Einzug des Zirkus Cabuwazi in die Piuskirche somit "a match made in Heaven"? - Vielleicht, aber nicht unbedingt. Fragen bleiben bestehen, in erster Linie deshalb, weil St. Pius eben nicht, wie in der Presse fälschlich behauptet wurde, "leer steht". Es erscheint ungewiss, ob und in wieweit eine Nutzung der Kirchenräume durch den Zirkus sich mit der Nutzung durch die Pfarrgemeinde unter einen Hut bringen lässt. Wie man hört, könnte es darauf hinauslaufen, dass für die Feier der Heiligen Messe künftig nur noch eine kleine Seitenkapelle zur Verfügung steht. (Wobei man einräumen muss, dass genau dies in den Wintermonaten ohnehin bereits der Fall ist, da das Hauptschiff nicht beheizbar ist.) Zudem erscheint es unklar, ob das Erzbischöfliche Ordinariat während der Sedisvakanz des Erzbischöflichen Stuhls überhaupt befugt ist, über eine veränderte Nutzung der Kirche zu entscheiden. Nach meinem bisherigen Informationsstand ist es fraglich, ob der kürzlich verabschiedete Erzbischof Kardinal Woelki noch während seiner Amtszeit grünes Licht für eine solche Entscheidung gegeben hat. Ist dies nicht der Fall, wird wohl der künftige Erzbischof hier noch ein Wörtchen mitzureden haben. 

3 Kommentare:

  1. Der Kinderzirkus ist sicher eine gute Sache, die unterstützt werden sollte - und ja auch kirchlicherseits schon Unterstützung erhält durch die Ordensleute. Aber mich macht es traurig, dass Kirchen aufgegeben werden. Zufällig kenne ich auch eine kleine Kirche, die Kapelle des Kinderheimes, in dem ich viele Jahre lang gearbeitet habe - erst als Gärtnerin, dann als Erzieherin. Das Heim war früher auch ein Kloster. Es wurde von Nonnen geleitet. In dieser Kapelle wurden meine Eltern getraut. Meine Großtante, die dort im Kloster Nonne war und in dem Heim Sonderschullehrerin, feierte ihre silberne, goldene und diamantene Profess dort. Mein Kind wurde dort getauft, und auch mein Patenkind. Viele Heimkinder aus früheren Zeiten hatten Erinnerungen an ihre Erstkommunion dort und ich weiß, dass sie noch heute davon erzählen. Vor ein paar Jahren, nachdem die alten Schwestern das Kloster schweren Herzens verlassen mussten, wurde die Kapelle profaniert. Nun habe ich gelesen, dass das 150 Jahre alte Kloster in Eigentumswohnungen umgewandelt wird - zwischen 60 und 160 m² groß. Die Kapelle wird ein "Luxury-Loft". Mann, ist das chic, in einer Kapelle zu wohnen! Da wohnte mal Gott!
    Der Grund, weshalb ich das nicht mag, ist, dass ich an die vielen Menschen denke, denen die Kirchen einmal viel bedeutet haben und auch heute noch bedeuten. Menschen in Berlin Friedrichshain sind auch in St. Pius getraut worden, wurden dort getauft, haben sich manchmal dort hingesetzt um still zu beten, haben Erinnerungen daran oder finden sie in ihrer Familiengeschichte. Und wie Du sagst steht die Kirche ja gar nicht leer. Ich habe mir die Fotos angesehen - es ist eine schöne Kirche mit einigen besonderen Kunstwerken. Gibt es in denn keine alte Fabrikhalle für den Zirkus? Oder einen leerstehenden Supermarkt?
    Und haben Gemeindemitglieder da nichts mitzureden?

    AntwortenLöschen
  2. Da habe ich einen Artikel gelesen: http://www.welt.de/kultur/kunst-und-architektur/article118264291/Deutsche-Kirchen-entweiht-umgenutzt-abgerissen.html
    unter anderem heißt es unter der Überschrift "Das Beispiel Gelsenkirchen-Ückendorf" (Heilig Kreuz-Kirche)
    Zum Schlussgottesdienst am 18. August 2007 kamen so viele, dass die Besucher bis auf die Straße standen. Viele ließen ihren Tränen freien Lauf. Seitdem schließt Fördervereinsmitglied Ferdinand Deuse den Andachtsraum von 1929 nur noch zweimal jährlich auf. Im Mai und im Advent heißt es dann: "Tür auf!" und "Licht an!" Die Besucher kommen aus ganz Deutschland.
    Wenn die Menschen weinen, dann bedeutet ihnen das Gotteshaus doch etwas. Wieso werden sie nicht gefragt?

    AntwortenLöschen
  3. Es tut mir weh, aber inzwischen denke ich:
    Die Hierarchie hat die Kirche verraten - und demontiert sie nach Kräften.

    AntwortenLöschen