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Dienstag, 13. Januar 2015

Was heißt hier "Gefühl"?

Im Grunde hätte ich gehofft - obwohl es durchaus schon früher Grund gab, daran zu zweifeln - dass es einen gewissen gesellschaftlichen Minimalkonsens hinsichtlich der Bewertung von Ereignissen wie dem Attentat auf das französische Satiremagazin Charlie Hebdo am 7. Januar  gäbe - einen Minimalkonsens, den ich mir ungefähr so vorstellen würde: Ganz egal, ob man die Inhalte und den Stil einer Zeitschrift (oder eines vergleichbaren Medienprodukts) total prima, ziemlich gut, akzeptabel, problematisch, schlecht oder ganz und gar widerwärtig findet, ist die Ermordung von Mitarbeitern dieser Zeitschrift nicht im Entferntesten moralisch zu rechtfertigen. 

Die zurückliegende Woche hat uns gelehrt, dass es um diesen Minimalkonsens nicht zum Besten steht. 

Zwar fanden sich Stellungnahmen, die das Attentat unverhohlen guthießen bzw. begrüßten und erklärten, die Charlie Hebdo-Mitarbeiter hätten es nicht besser verdient, erwartungsgemäß nur in schummrigen Winkeln der Sozialen Netzwerke, oder vielleicht auch hinter vorgehaltener Hand auf Schulhöfen. Mehr oder weniger vorsichtige Andeutungen, die Opfer des Attentats seien - angesichts ihrer häufigen, vielfach sehr derben Provokationen an die Adresse des militanten Islams - irgendwie ja doch ein bisschen selber schuld, fanden sich allerdings doch einige; umgekehrt setzte fast unmittelbar nach der Tat ein bizarrer Wettlauf um die Vereinnahmung der Opfer für jeweils eigene Positionen ein. Unter dem Label "Je suis Charlie" wurde (und wird) die totale Identifikation und Solidarisierung mit Charlie Hebdo gefördert und gefordert, aber gleichzeitig tobte (und tobt) ein heißer Kampf darum, wer eigentlich das Recht hat, "Je suis Charlie" zu sagen, und wer nicht. Wer sich mit Charlie Hebdo solidarisch erklärt, obwohl er mit den Inhalten der Zeitschrift ehrlicherweise kaum einverstanden sein kann, gilt als Heuchler; wer nicht Charlie sein will, gerät in den Verdacht, mit den Attentätern zu sympathisieren. 

In dem Moment, in dem ein Aufsehen erregendes Verbrechen in der öffentlichen Debatte zu einem Symbol stilisiert wird, ist es nahezu unvermeidlich, dass alsbald ein Kampf um die Deutungshoheit ausbricht: Wofür stehen die Täter, wofür die Opfer? (Eine solche Stilisierung kommt kaum ohne Vergröberungen und selektive Sichtweisen aus; jemand, der - wie der Gebäudereiniger Frédéric Boisseau - einfach zur falschen Zeit am falschen Ort war und somit als völlig Unbeteiligter eine Kugel oder eine ganze Salve aus einem Sturmgewehr abbekam, ist als Symbol unbrauchbar, weil er nichts symbolisiert; er ist somit ein Opfer zweiter Klasse und wird vergessen. Es bleiben nur auf der einen Seite die Attentäter Said und Chérif Kouachi, auf der anderen die getöteten Charlie Hebdo-Redakteure.) -- Stehen die Täter für "den Islam", die Opfer für "das Abendland"? Das wäre in etwa die Lesart der PEGIDA, die dafür prompt mit einer in zahlreichen deutschen Zeitungen abgedruckten Karikatur abgestraft wurden, die die PEGIDA-Demonstranten in die Nähe der Attentäter rückt. Als exemplarisch für ein wesentlich erfolgreicheres, wenngleich nicht weniger perfides Deutungsmuster des Charlie Hebdo-Attentats mag man eine von dem aus Funk und Fernsehen bekannten Comedian Oliver Kalkofe eingesprochene Stellungnahme ansehen, die seither heftig durch die sozialen Netzwerke zirkuliert. Kalkofe nimmt die Morde von Paris zum Anlass, ganz allgemein gegen Religion und gegen religiöse Menschen zu geifern, und zwar - wie um klarzustellen, dass es ihm nicht allein um den Islam geht - vorzugsweise gegen das Christentum. Dafür, dass er vom Wesen des Glaubens und der Religion offenkundig nicht das Geringste verstanden hat, kann er vielleicht nichts, aber ein bisschen tragikomisch wirkt das schon, wenn er sich gleichzeitig so viel auf seine prinzipielle intellektuelle Überlegenheit gegenüber gläubigen Menschen zu Gute hält. So oder so ist Kalkofes Botschaft deutlich genug: Weil der Anschlag auf Charlie Hebdo offenbar durch die für diese Zeitschrift charakteristischen häufigen Schmähungen gegen Religionen veranlasst worden ist, besteht die einzig angemessene Reaktion auf dieses Verbrechen darin, Religionen jetzt erst recht zu schmähen. Ähnlich argumentiert auch der Titanic-Mitherausgeber Oliver Maria Schmitt in einem Interview mit der Berliner Zeitung.

Tatsächlich hat die Zeitschrift Charlie Hebdo von jeher Christentum und Judentum kaum weniger drastisch aufs Korn genommen als den Islam. Man könnte vielleicht auf die Idee kommen, es sei irgendwie signifikant, dass dennoch weder Christen noch Juden mit Sturmgewehren und Raketenwerfern in die Redaktionsräume eingedrungen sind, zwölf Menschen getötet und einige weitere verletzt haben, sondern eben Muslime; aber damit würde man sich wohl allzu leicht dem Verdacht der Islamophobie aussetzen. Unverfänglicher ist es da sonderbarerweise, zu erklären, letztlich seien alle Religionen gleich - und zwar nicht gleich gut, sondern gleich schlecht.
(Wohlgemerkt: Wer darauf hinweist, dass Christen und Juden vergleichsweise eher selten dabei angetroffen werden, Schmähungen ihres Glaubens mit Terroranschlägen zu beantworten, tut gut daran zu erwähnen, dass die allermeisten Muslime dies ebenfalls nicht tun. Somit wäre es offenkundig ungerecht, zu unterstellen, alle Muslime seien potentielle Terroristen. Warum es aber weniger ungerecht sein soll, diesen Pauschalvorwurf noch weiter zu verallgemeinern und auf alle Religionen zu beziehen, will mir nicht in den Kopf.)

Wenn demnach das beliebte Vorurteil, Religion(en) sei(en) für alle - oder die meisten - Übel der Menschheitsgeschichte verantwortlich, dank des Charlie Hebdo-Attentats mal wieder im Aufwind ist, kann es wohl nicht schaden, auf Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und Artikel 4 des deutschen Grundgesetzes hinzuweisen - sowie auch darauf, dass im Einklang mit diesen Grundrechten die "Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen" laut § 166 StGB ein Straftatbestand ist. Der Paragraph hat allerdings seine Tücken, auf die jüngst schon Josef Bordat hingewiesen hat. Dass die Schmähung des religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnisses Anderer erst dann justitiabel wird, wenn sie "geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören", hat den offensichtlichen Haken, dass die Reaktion des Opfers die Beurteilung der Tat mitbestimmt. Wer Schmähungen seines Glaubens geduldig erträgt oder sich allenfalls mit Leserbriefen oder Blogartikeln Luft verschafft, gefährdet den öffentlichen Frieden nicht; sehr wohl hingegen derjenige, der potentiell bereit ist, zur Waffe zu greifen, um Schmähungen seines Glaubens zu rächen. Folglich ist § 166 eher dazu geeignet, die "religiösen Gefühle" gewaltbereiter Fanatiker zu schützen als diejenigen friedlicher und geduldiger Gläubiger. Man mag das ungerecht finden, aber aus Sicht des Staates ist es konsequent - schließlich muss der Staat das öffentliche Interesse im Auge haben. "Gefühle" jedoch sind Privatsache.

Aber reden wir nicht nur vom Staat, reden wir auch von der Gesellschaft. Von einem funktionierenden Gemeinwesen möchte man schließlich erwarten dürfen, dass das friedliche Zusammenleben in ihr nicht allein durch das Strafrecht (oder überhaupt durch Gesetze) gewährleistet wird. Folgerichtig drehen sich Debatten darüber, "was Satire (oder auch: Comedy, Werbung, "die Medien" allgemein) darf (bzw. dürfen)", in aller Regel nicht nur um die Frage, was gesetzlich erlaubt, sondern auch, was gesellschaftlich zumutbar ist. Hier nun ärgert es mich schon länger, dass Schmähungen, Verhöhnungen und Herabwürdigungen von Religion nahezu ausschließlich unter dem Aspekt der "Verletzung religiöser Gefühle" betrachtet werden. Was heißt hier "Gefühl"?, denke ich da immer und fühle mich als religiöser Mensch nicht ernst genommen. Als wäre ich so ein kleines Häschen, auf dessen Gefühle man besondere Rücksicht nehmen müsse - was im Umkehrschluss natürlich bedeutet, dass nichtreligiöse Menschen (wie auch Herr Kalkofe offensichtlich meint) prinzipiell die reiferen, vernünftigeren und erwachseneren Menschen sind.

Man muss jenen, die mit dem Begriff der "Verletzung religiöser Gefühle" operieren, aber gar keine böse Absicht unterstellen; man kann auch schlicht konstatieren, dass darin eine grundlegende Verständnisbarriere zwischen der säkularen Gesellschaft und der Sphäre des Religiösen zum Ausdruck komme - ein Missverständnis, das sich quasi zwingend aus der falschen Voraussetzung ergibt, Religion sei "Privatsache". So kann der nichtreligiöse Mensch gerade noch versuchen, auf emotionaler Ebene Verständnis für den einzelnen Gläubigen zu entwickeln (das dann, gewollt oder ungewollt, leicht einen herablassenden Beigeschmack hat); das Phänomen des Glaubens als solches bleibt ihm jedoch fremd.

Was die säkulare Gesellschaft nicht versteht, ist, dass aus Sicht des Gläubigen - zumindest sofern es sich um den Anhänger einer Erlösungsreligion mit universalem Wahrheits- und Gültigkeitsanspruch handelt - der Glaube nicht nur eine Frage seines persönlichen Wohlbefindens ist, sondern der Weg zum Heil, und zwar zum Heil der ganzen Welt. Fälle öffentlicher Herabwürdigung dieses Glaubens verletzen somit sehr viel mehr als nur sein individuelles Gefühl: Indem sie die Religion in ein schiefes Licht rücken und die Ehrfurcht vor dem Heiligen beeinträchtigen, bergen sie die Gefahr, im Glauben nicht sehr gefestigte Menschen zu verunsichern, sie womöglich vom Glauben abzubringen (und sagt Jesus Christus nicht in Markus 9,42 "Wer einen von diesen Kleinen, die an mich glauben, zum Bösen verführt, für den wäre es besser, wenn er mit einem Mühlstein um den Hals ins Meer geworfen würde"?); und dem Glauben fernstehenden Menschen wird womöglich der Zugang zum Glauben noch weiter verbaut. Anders und eventuell etwas pathetisch ausgedrückt: Aus der Perspektive des gläubigen Menschen gefährden Schmähungen der Religion in Satire, Comedy, Werbung oder ganz allgemein "in den Medien" unmittelbar das Seelenheil zahlloser Mitmenschen. Nun ist es zweifellos nicht die Aufgabe eines weltanschaulich neutralen Staates, die Vorstellungen dieser oder jener Religion darüber zu verfechten, was für das Seelenheil der Menschen förderlich und was schädlich sei; umso mehr ist dies jedoch die Aufgabe der Gläubigen selbst. Diese haben nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht, öffentlicher Herabwürdigung ihrer Religion entschlossen entgegenzutreten. Ebenso ist es allerdings ihre Pflicht, bei der Wahl ihrer Mittel das rechte Maß zu wahren.

Dass Mord, Geiselnahme oder andere Gewalttaten keine legitimen Mittel zu diesem Zweck sind, sollte sich, wie eingangs erwähnt, eigentlich von selbst verstehen. 

1 Kommentar:

  1. Jetzt hab ich mir diesen Kalkofe mal angetan.
    Oh weh... soll das etwa die Intelligenz und der Witz meines Heimatlandes, meiner Muttersprache sein? Wenn ja - kyrie eleison.

    "Der Kern aller Glaubenskriege bleibt letzten Endes die Dummheit."
    Und was ist dann der Kern anderer Kriege? Zum Beispiel der Kern des Siebenjährigen Krieges, des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, oder auch der Kern des Koreakriegs? Bißchen weiter zurück: Was war der Kern des Mongolensturms? Was war der Kern des Gallischen Krieges?

    Und wenn man annimmt, daß Diktaturen durchaus ein "Krieg gegen das eigene Land" genannt werden können - was ist dann der Kern aller sozialistischen Diktaturen, einschließlich Nordkorea?

    Muß ja etwas anderes als Dummheit sein, die offensichtlich Alleinstellungsmerkmal der Religionen ist.

    Gewalt ist nicht die einzige Bankrotterklärung der persönlichen Intelligenz. Es geht auch anders, wie Kalkofe wunderbar im Selbstversuch darstellt. (Nicht mal in Wikipedia nachgucken, daß Fegefeuer nichts mit Hölle zu tun hat, ist wirklich dumm.)

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