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Sonntag, 12. April 2015

I've seen the Future, Baby

Wenn man seinen Samstagsnachmittagskaffee in einem Lokal trinkt, in dem – weil die Tresenschicht es nun einmal so will – die ganze Zeit Die Toten Hosen gespielt werden, dann fällt einem irgendwann auf, dass sich hinter der rebellischen Attitüde der Düsseldorfer Alt-Punks ein gerüttelt Maß an Spießertum verbirgt. Aber darüber wollte ich eigentlich gar nicht schreiben. Na, halten wir den Gedanken ruhig trotzdem fest – vielleicht brauchen wir ihn noch für später.

Das Lokal, in dem ich meinen Kaffee trank, ist nicht allzu weit entfernt vom Kollwitzplatz, dem sprichwörtlichen Epizentrum der Gentrifizierung, wo das Sinus-Milieu der Performer seinen mehr oder minder wohlgeratenen Nachwuchs ausführt, während es gleichzeitig per Smartphone und Tablet an der Übernahme der Weltherrschaft arbeitet, zumindest der ökonomischen. Von diesem Milieu grenzt sich die besagte Kneipe allerdings vehement ab – so vehement, dass ein Spruchband über dem Tresen barsch verkündet: „Kein Beck's, kein Latte, kein Bullshit“. Deshalb gehe ich da auch so gerne hin, Punk-Spießigkeit hin oder her. Außerdem ist der Kaffee gut und billig.

Das alles hat, zugegebenermaßen, immer noch nur sehr indirekt mit dem Thema zu tun, über das ich hier eigentlich schreiben will, aber als atmosphärische Einstimmung finde ich es irgendwie doch ganz stimmig. – Zur Sache: Unlängst erschien im Magazin futur2 – Zeitschrift für Strategie & Entwicklung in Gesellschaft und Kirche ein Beitrag mit dem Titel „Eine Zukunftsvision für die Kirche“, verfasst von Monsignore Klaus Pfeffer, dem Generalvikar des Bistums Essen, das den Artikel auch auf seiner Facebook-Seite bewarb. Die Resonanz war groß – und kontrovers: Bei den Einen löste dieses Zukunftsbild begeisterte Zustimmung aus, bei den Anderen nacktes Entsetzen. Beides ist kein Wunder, denn der Essener Generalvikar entwirft das Bild einer Kirche, die maßgeschneidert scheint für die Bedürfnisse und Vorlieben der Kollwitzplatz-Soja-Latte-Fraktion. Einer Kirche, in der Christen „interessante Leute“ sind, „achtsam und feinfühlig“, „untereinander gut vernetzt“, „mit einer hohen fachlichen Kompetenz“, „sympathisch“, kurz gesagt: zum Kotzen. Wie Bloggerkollege Cicero in seiner pointierten Analyse des Artikels feststellt, ist die Kirche, von der Pfeffer träumt, „eine Kirche der Reichen, der Erfolgreichen, der Jungen und der Schönen“, „eine gnostische Gemeinschaft der gut Ausgebildeten“, „durchdrungen vom Positiven Denken“. So furchtbar originell ist diese Vision freilich nicht: In den Pastoralplänen der deutschen Bistümer stehen die Sinus-Milieus geradezu im Range eines Dogmas; und es gilt als ausgemacht, dass das attraktive Sinus-Milieu der Performer für die Mitarbeit in Pfarreien herkömmlicher Art nicht zu begeistern sei. Also braucht man neue Formen, die gezielt diese Zielgruppe ansprechen. Schließlich hat diese Zielgruppe dank ihrer guten Ausbildung und ihres strikten Leistungswillens in der Regel ein gutes Einkommen und generiert somit viel Kirchensteuer. „Das ist die Kirche, die sich die Consultants vorstellen“, urteilt Cicero. „Das sind die Phantasien, die unter Einfluß der Consultants in den Ordinariaten zum Teil längst die Gestalt von konkreten Plänen angenommen haben.“

Und es sind schon heute nicht mehr nur Pläne. In Aachen zum Beispiel gibt es das Zeitfenster, „ein vom Bistum Aachen gefördertes Projekt, mit dem wir herausfinden wollen, wie Kirche in Zukunft aussehen kann“. Bei diesem Projekt handelt es sich um „eine neue Gemeinde in der Pfarre Franziska von Aachen“ für „moderne Erwachsene mit und ohne Kinder in der Aachener City“, die „einen Raum für die eigene Spiritualität“ suchen. An jedem zweiten Freitag im Monat gibt es da einen „besonderen Gottesdienst“ - „mit Energie, Herzblut und unter Einbeziehung vieler entwickelt: Ein Gottesdienst, der ins Heute passt und berührt.“ Zeitfenster verspricht den „perfekten Einstieg ins Wochenende für Erwachsene mit Lust auf Nahrung für Herz und Hirn“: „gute Musik, entspannte Leute, normale Sprache“. Oder was man so für normal hält. Die Website jedenfalls trieft von exakt demselben Lifestyle- und Wellness-Sprech, der auch das Zukunftsbild des Essener Generalvikars prägt. Da Aachen von Berlin aus nicht gerade um die Ecke ist, kenne ich die Zeitfenster-Gottesdienste nicht aus eigener Anschauung, aber ich habe mir kürzlich die Aufzeichnung einer Predigt von Annette Jantzen zum Thema „Erfolgreich scheitern“ angehört – oder anzuhören versucht. Nach einigen Minuten habe ich aufgegeben. Wenn so die Zukunft der Kirche aussieht (bzw. sich so anhört), dann wird sie wohl ohne mich stattfinden müssen.

Es besteht aber wohl doch eine gewisse Aussicht, dass es auch in Zukunft eine Kirche für Menschen geben wird, die nicht dem Milieu der Performer angehören und das womöglich auch gar nicht wollen – für total un-hippe Nicht-Yuppies, die keinen trendigen und gut bezahlten Job, keine Eigentumswohnung, keine Laktoseintoleranz und kein LinkedIn- oder Xing-Profil haben und die die Namen ihrer Kinder nicht aus dem Ikea-Katalog ausgesucht haben. Darüber, wie eine solche „Kirche der Zukunft“ aussehen könnte, liest man im Allgemeinen eher weniger, aber vielleicht kann auch hier die Gegenwart schon den einen oder anderen Fingerzeig geben – insbesondere die Gegenwart in solchen Gegenden, in denen die Kirche einen schweren Stand hat. Wie zum Beispiel Neukölln.

Gestern Abend war ich, nachdem ich mich an den Toten Hosen entschieden überhört hatte, zur Vorabendmesse in St. Clara in Nord-Neukölln. Nord-Neukölln, das ist Neukölln im engeren Sinne, der Ortsteil Neukölln im Bezirk Neukölln – das Neukölln, das, dem Titel eines populistischen Bestsellers zufolge, „überall“ ist. Folgerichtig lautet das Motto der drei katholischen Pfarreien dieses Stadtteils „Kirche im sozialen Brennpunkt“. – Ich gehe gern in St. Clara in die Messe, wenn auch nicht allzu oft, da einige andere Kirchengemeinden für mich leichter und schneller erreichbar sind; das Gebäude strahlt von außen wie von innen Würde und Feierlichkeit aus, Pfarrer Martin Kalinowski zelebriert tadellos und predigt gut, und Kaplan Johannes Schaan nicht minder. Als ich gestern dort war, erwarb ich kurz entschlossen für 50 Cent die aktuelle Ausgabe des gemeinsamen Pfarrbriefs der drei Nord-Neuköllner Pfarreien – neben St. Clara noch St. Christophorus und St. Richard. Das 56 Seiten starke Heft mit dem Titel Nordlicht erwies sich als interessante Lektüre. Unter anderem enthielt es statistische Angaben zur Mitgliederentwicklung der drei Pfarreien; und schon eine oberflächliche Analyse der Zahlen ließ einige Probleme erkennen. Die Kirchenaustrittszahlen der Jahre 2013 und 2014 im Verhältnis zur Gesamtzahl der in Nord-Neukölln ansässigen Katholiken liegen deutlich über dem Bundesdurchschnitt; auf der anderen Seite ist der Gottesdienstbesuch signifikant unterdurchschnittlich: Am Zählsonntag 2013 fanden gerade mal 3,8% der Nord-Neuköllner Katholiken den Weg in eine der sechs Kirchen und Kapellen des Stadtteils, am Zählsonntag 2014 waren es 3,4%. In St. Clara gab es in beiden Jahren mehr Beerdigungen als Taufen, 2013 war dies auch in St. Richard der Fall.

Trotz dieser schwierigen Lage entfalten die Pfarreien des Stadtteils eine beeindruckende Fülle an Aktivitäten, und zwar sowohl gottesdienstlicher als auch caritativer Art. An jedem Tag der Woche wird an mindestens einem der sechs Gottesdienststandorte die Heilige Messe gefeiert, sonntags sind es fünf Messen, freitags vier, mittwochs und donnerstags drei; je einmal wöchentlich gibt es Laudes und Vesper, zweimal wöchentlich Rosenkranzgebet, viermal wöchentlich ein Mittagsgebet. An vier Standorten gibt es feste wöchentliche Beichtgelegenheiten. - Jede der drei Pfarreien betreibt eine Kindertagesstätte, St. Richard zudem ein Seniorenheim mit einem Schwerpunkt auf Palliativpflege. St. Christophorus betreibt das „Pallotti-Mobil“, ein Nachbarschaftshilfeprojekt, bei dem Langzeitarbeitslose und/oder ehemalige Obdachlose die Wohnungen von Sozialhilfeempfängern oder unter dem Existenzminimum lebenden Mitmenschen renovieren, sowie ein Nachtcafé für Obdachlose; im Pfarrhaus von St. Clara gibt es eine Kleiderkammer, außerdem betreibt die Katholische Kirche Nord-Neukölln am zur Pfarrei St. Clara gehörenden Standort St. Eduard gemeinsam mit anderen Trägern die Bildungsstätte JACK für Migrantinnen und Flüchtlinge. Auch um den interreligiösen Dialog bemüht man sich – nicht unwichtig in einem Stadtteil, in dem es mehr Muslime als Katholiken gibt.

Das alles erfordert natürlich viel ehrenamtliches Engagement, aber auch Geld. Und das ist knapp. Man kann sagen, in Nord-Neukölln ist die von Papst Franziskus beschworene „arme Kirche für die Armen“ Realität. In St. Clara wird die Kollekte regelmäßig zur Deckung der Heizkosten herangezogen – eine Maßnahme, deren Berechtigung den Kirchenbesuchern besonders im Winter unmittelbar einleuchtet.

Katholisch sein in Nord-Neukölln ist nicht hip, cool und trendy. Die Menschen, die dort die Heilige Messe feiern und zur Beichte gehen, sind keine Lifestyle-Avantgardisten mit beeindruckendem persönlichem Portfolio. Aber beeindruckend ist es, was die „Kirche im sozialen Brennpunkt“ mit ihren begrenzten Mitteln so alles auf die Beine stellt – und der Pfarrbrief lässt keinen Zweifel daran, dass das vielfältige sozial-caritative Engagement der Gemeinden motiviert ist und getragen wird vom christlichen Glauben, das heißt: nicht von jener diffusen inneren Kraft, von der Monsignore Pfeffer in seiner Zukunftsvision sagt, dass seine interessanten, attraktiven Hipster-Christen sie Gott nennen, sondern vom Glauben an den ganz konkreten Jesus Christus, den Sohn Gottes, der Mensch geworden ist, gekreuzigt wurde und auferstanden ist. So heißt es auf S. 19 über das Nachtcafé für Obdachlose:
„Was Ihr dem Geringsten meiner Schwestern und Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“, sagt Jesus. „Jesus, dann sitzt Du im Nachtcafé also vor mir. [...]“

Interessant an den oben angesprochenen Statistiken der Jahre 2013 und 2014 ist auch, dass die Gesamtzahl der Katholiken in Nord-Neukölln trotz der relativ hohen Austrittszahlen einigermaßen konstant geblieben ist; die Pfarrei St. Richard ist sogar leicht gewachsen. Erklären lässt sich das nur durch Zuwanderung bzw. Zuzug von Katholiken. Das bedeutet, die Mitgliederstruktur der Pfarreien verändert sich. Der nordwestlichste, an Kreuzberg angrenzende Teil Neuköllns - „Reuterkiez“ oder neuerdings auch „Kreuzkölln“ genannt – entwickelt sich seit einigen Jahren zum Szeneviertel und ist daher zunehmend von Gentrifizierung betroffen; man darf also davon ausgehen, dass unter den hierher ziehenden Katholiken auch einige typische Performer sein mögen, aber die dürften in St. Christophorus, der nördlichsten der drei Pfarreien – wo PaterKalle Lenz SAC die Liturgie recht freihändig handhabt und seine Predigten im Stil einer Stand-up-Comedy gestaltet und wo das dienstags bis freitags um 12 Uhr stattfindende Mittagsgebet „High Noon“ heißt – recht gut aufgehoben sein. Insgesamt dürfte sich jedoch eine andere Entwicklungstendenz im sozialen Brennpunkt Neukölln erheblich stärker auf die Mitgliederstruktur der Kirchengemeinden auswirken: die Integration von Migranten und Flüchtlingen, für die sich die Neuköllner Pfarreien ja in besonderem Maße engagieren. Wie der Migrationsbericht 2013 des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge gezeigt hat, stammt der weit überwiegende Teil der Zuwanderer, die nach Deutschland kommen, aus christlich geprägten Ländern; viele sind katholisch, was gerade den ostdeutschen Diözesen signifikante Mitgliederzuwächse beschert. Diese Zuwanderer bringen ihre eigenen Traditionen, ihren eigenen Glaubenseifer, ihre eigenen Frömmigkeitsformen mit – und ihre eigene materielle Armut. Mögen hauptamtliche Pastoralstrategen noch so blumig von ihrer zukunftsorientierten Hipsterkirche träumen: Es scheint doch so Manches dafür zu sprechen, dass die Kirche der Zukunft in Deutschland eher weniger wohlhabend, weniger hedonistisch, weniger hip und cool sein wird – und weniger „typisch deutsch“. Mag der Caffè-Latte-Katholizismus sich einbilden, ihm gehöre die Zukunft; auf längere Sicht, das wage ich zu prognostizieren, hat er keine Zukunft.


Und das betrachte ich als eine ausgesprochen gute Nachricht. 


[P.S.: Die Überschrift dieses Artikels ist inspiriert von diesem Song von Leonard Cohen - auch enthalten auf dem Soundtrack des Films Natural Born Killers...]

1 Kommentar:

  1. Ich hab mich mit der Thematik nicht intensiv beschäftigt, frage mich aber ehrlich, ob dieses für Zielgruppen maßgeschneiderte Programm, das da vorgestellt wird, tatsächlich etwas soooo Neues und Unkatholisches ist.
    Schon in meiner Pfarrgemeinde vor Jahrzehnten gab es Programme für Interessensgruppen - Bastelrunde, Kirchenchor, Missionskreis, Kath. Männerbund und wie sie alle hießen.
    Ist das Problem, dass die Planer hier einen qualitativen Unterschied machen und die "Performer" gezielt umwerben als die, mit denen sich Kirche machen lässt?
    Ist das Problem, dass hier die Gruppen nach Lebensstil eingeteilt werden ("Perfomer" auf der einen Seite, "Traditionell Arme" auf der anderen)?

    Niemand kann der Kirche verdenken, dass sie sich auf eine Zukunft mit leereren Kirchenbänken vorbereiten möchte (und die werden noch viel, viel leerer werden), es würde mich interessieren, inwieweit das Umwerben der "Hipster" mit einer Abwertung weniger hipper Gruppen Hand in Hand geht.

    (Der Ansatz erscheint mir schon deshalb problematisch, weil ja der - unfreiwillige? - Kirchenstifter selbst sozusagen diversity bei seinen Berufungen zur Norm machte. Aber sind diese Pläne wirklich so auf Exklusivität gerichtet oder ist das Zitierte nur ein kleiner Ausschnitt einer viel umfassenderen Planung, die unterschiedliche Gruppen berücksichtigt?)

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