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Montag, 31. Oktober 2016

Wenn die Welt euch hasst...

"Der Schaden der Kirche kommt nicht von ihren Gegnern, sondern von den lauen Christen" - dieser Aufsehen erregende Satz Papst Benedikts XVI. aus seiner Ansprache im Rahmen der Gebetsvigil mit Jugendlichen in Freiburg am 24.09.2011 kam mir wieder einmal in den Sinn, als ich unlängst in der Online-Ausgabe des Berliner Tagesspiegels auf einen so genannten "Rant" mit der eigentlich hoffnungsvoll stimmenden Überschrift "Ich bin Christ - und das ist gut so!" stieß - verfasst von einem gewissen Friedhard Teuffel. Man möchte fast hoffen, dass das ein Pseudonym ist, obwohl, als solches wäre es eigentlich schon ein bisschen arg dick aufgetragen. -- Worum geht's? Zunächst einmal um die Beobachtung, dass ausgerechnet im vermeintlich so toleranten und weltoffenen Berlin Christen vielfach schief angesehen werden. Das ist eine Beobachtung, die ich aus eigener Erfahrung teilweise durchaus bestätigen kann, und vielen meiner christlichen Freunde in der Bundeshauptstadt mag's ähnlich gehen. Das erklärt wohl auch, dass dieser Tagesspiegel-Artikel in meinem Bekanntenkreis recht eifrig auf Facebook geteilt wurde. Liest man jedoch mehr als nur die Überschrift, wird der Text schnell enttäuschend - ja sogar ärgerlich. 

(Bildquelle hier.) 
Dass man als Christ mit Anfeindungen rechnen muss, ist ja nichts Neues und erst recht nichts Berlin-Spezifisches; es steht gewissermaßen bereits in den AGBs des Christentums. "Wenn die Welt euch hasst, dann wisst, dass sie mich schon vor euch gehasst hat", sagt Jesus Christus seinen Jüngern in Johannes 15,18; und in Matthäus 5,11f. heißt es sogar: "Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt und auf alle mögliche Weise verleumdet werdet. Freut euch und jubelt: Euer Lohn im Himmel wird groß sein. Denn so wurden vor euch schon die Propheten verfolgt." 

Friedhard Teuffel freut sich nicht und jubelt nicht - sondern stellt fest: "Diese Stadt hat für den christlichen Glauben einen festen Platz vorgesehen: die Rechtfertigungsecke". Dass er sich in dieser nicht wohlfühlt, ist menschlich erst einmal verständlich. Aber mit der Rechtfertigung ist es so eine Sache: was genau soll eigentlich gerechtfertigt werden, und auf welche Weise? Die Rechtfertigung des Glaubens aus der Vernunft nennt man Apologetik, und das ist ein durchaus verdienstvolles Betätigungsfeld für einen Christen. Apologetik setzt allerdings allerlei voraus - zunächst einmal, dass man sich mit seinem Glauben einigermaßen auskennt, dann aber auch Kenntnisse in Geschichte, Philosophie und von Fall zu Fall wohl auch Naturwissenschaften. Nicht zuletzt erfordert sie eine hohe Frustrationstoleranz, denn man wird immer wieder auf Debattengegner stoßen, die sich weder durch Argumente noch durch Fakten von ihren Vorurteilen abbringen lassen. Ein unter Umständen noch wirkungsvolleres (aber auch nicht unbedingt einfacheres) Vorgehen wäre die Rechtfertigung des Glaubens durch persönliches Zeugnis: Der Christ könnte den Nichtchristen davon erzählen, was der Glaube ihm persönlich bedeutet, oder, pathetischer ausgedrückt: wie Gott in seinem Leben wirkt. Friedhard Teuffel tut nichts von beidem. Obwohl er in der Überschrift mit Wowereitschem Trotz ausruft "und das ist gut so!", erklärt er im Folgenden mit keinem Wort, was an seinem Glauben eigentlich gut sein soll. Er will, kurz gesagt, nicht den Glauben rechtfertigen, sondern sich dafür rechtfertigen, dass er gläubig ist - und tut dies ausnahmslos mittels der "Ich bin ja gar nicht so"-Methode. Alles, was man dem Christentum bzw. der Kirche vorwerfen könnte, räumt er zunächst einmal in vorauseilendem Gehorsam ein ("Ja, ich weiß: Die Kirche als Institution beging und begeht reihenweise Sünden." - "Ja ja, Jungfrauengeburt, wird dann gespottet, was für ein Schwachsinn"), und distanziert sich nach Kräften ("Dabei heißt es ja Glauben. Und nicht Wissen. Das Schöne ist doch: Ich kann etwas glauben. Und ich muss nicht alles glauben"), bis schließlich nur ein rein privater, selbstgestrickter Glaube übrig bleibt, von dem überhaupt nicht deutlich wird, worin dieser eigentlich besteht. Ihr sagt doch selbst immer, Glauben sei Privatsache, argumentiert er. Dann lasst mich doch in Ruhe mit meinem privaten Glauben. Schließlich vergleicht er sein Bekenntnis zum Christentum gar mit der Anhängerschaft von Fußballvereinen: 
"Wer schafft es denn wirklich, einem Fußballklub abzuschwören, wenn ein Spieler den Gegner mit Blutgrätsche zum Sportinvaliden tritt, die Vereinsführung die Schleusen zum Kommerz öffnet oder aus der Fankurve rassistische Parolen gegrölt werden?" 
Ach so. Er schafft es nicht. Na dann. -- Ein positives Glaubenszeugnis ist all das wohl kaum; eher im Gegenteil. Wie ich schon angedeutet habe (und regelmäßige Leser meines Blogs wissen es): Mit Feindschaft gegenüber dem christlichen Glauben werde auch ich in meinem alltäglichen Leben immer mal wieder konfrontiert. Und ja, das macht mich oft traurig und von Fall zu Fall auch wütend. Aber das eigentlich Schlimme daran ist doch nicht, dass es mich in unangenehme Situationen bringt, wenn ich mich zu meinem Glauben bekenne; das eigentlich Schlimme ist, dass die betreffenden Personen ihr eigenes Heil von sich stoßen

Nun will ich mit Friedhard Teuffel persönlich nicht allzu hart ins Gericht gehen. Wenn er darunter leidet, wegen seines Glaubens belächelt oder angefeindet zu werden, dann kann ich durchaus Mitgefühl mit ihm haben. Aber wenn ihm das Thema so wichtig ist, dass er in einer Zeitung darüber schreibt, dann empfinde ich die völlige Abwesenheit eines positiven Bekenntnisses zum Glauben schon als einen empfindlichen Mangel. Wenn es ihm nur um seine persönliche Befindlichkeit geht, warum kann er das dann nicht seinem Friseur, seinem Lifecoach oder im günstigsten Fall seinem Beichtvater erzählen? -- Bei nochmaligem Nachdenken über den Text kommt mir übrigens die Frage in den Sinn, ob diese defensive "Lasst mich doch"-Argumentationsstrategie womöglich schon das Maximum dessen ist, was eine führende Berliner Tageszeitung ihren Lesern in Sachen "Plädoyer für das Christentum" zuzumuten bereit ist. Und das finde ich dann wirklich bedenklich. 



Freitag, 14. Oktober 2016

Dylans Nobelpreis und der dunkelkatholische Echoraum

Voilà, liebe Leser: Ich habe soeben die erste entscheidende Hürde genommen, indem ich diesen Artikel nicht mit "The Times, they are a-changing" überschrieben habe. An dieser Klippe scheitern anscheinend die meisten, die einen Essay, einen Kommentar oder eine Glosse zur Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan verfassen wollen oder müssen. Man kann's ja auch verstehen: Der Titel passt schon ziemlich gut. Aber er ist eben auch ein bisschen billig, weil letztlich eben dich nur vom Meister geklaut.

Wenn ich "Meister" sage, dann verrät das wohl schon, dass ich die Wahl des Nobelkomitees gut finde. -- Was heißt "gut" - ich finde sie prima. Ich feiere sie ab. Whoop whoop! 

Mir ist bewusst, dass unter denen, die diese Entscheidung des Nobelkomitees nicht nur nicht gut, sondern ausgesprochen doof finden, Personen sind, die ich schätze und mag. Diesen (und auch all jenen mit der Vergabe des Nobelpreises an Bob Dylan unzufriedenen Lesern, die ich zwar nicht kenne, die ich aber vielleicht schätzen und mögen rde, wenn ich sie kennte) rufe ich zu: Ich respektiere Eure Meinung! Sie soll Euch nicht genommen werden. Ihr seid schließlich schon gestraft genug damit, dass Bob Dylan den Preis trotz Eurer Einwände bekommt. Niemand kann von Euch verlangen, das auch noch gut zu finden. 

Und wenn ich in den folgenden Absätzen einige scharfe Worte darüber verlieren werde, warum ich meinerseits das Gemäkel daran, dass Bob Dylan den renommiertesten Literaturpreis der Welt erhält, doof finde, dann nehmt das nicht persönlich. Und seid getrost: Diese Kritik wird nicht der Hauptinhalt dieses Artikels sein. Ihr dürft auch vorscrollen. 

Tatsächlich ist die Vergabe des Nobelpreises für Literatur ja grundsätzlich immer umstritten. Man erinnere sich nur mal an das Gezeter der Kritikerzunft, als Dario Fo die Auszeichnung erhielt. Oder Harold Pinter. Oder gar Pearl S. Buck - okay, das ist schon etwas länger her. Beim Physik-Nobelpreis gibt es solche Debatten wohl weniger, oder wenn doch, dann allenfalls in den engeren Fachkreisen. Bei Literatur ist jeder ein Fachmann, der lesen kann und das ab und zu auch tut. -- Im Ernst: Ich bin überzeugt, dass viele Nobelpreis-Nörgler sehr gebildete und belesene Leute sind, die diejenigen Autoren, die immer mal wieder als Kandidaten für den Literaturnobelpreis gehandelt werden, ihn dann aber doch nicht bekommen, tatsächlich kennen. Also, ihre Werke, meine ich. Nicht wenige haben wohl auch ihre persönlichen Favoriten auf der Shortlist. Haruki Murakami zum Beispiel. Also, wenn eingefleischte Murakami-Fans jetzt etwas scheele Blicke auf Bob Dylan werfen, dann habe ich dafür menschlich Verständnis. Obwohl ich in meinem Leben noch keine einzige Zeile von Murakami gelesen habe. 

Nun gibt es im aktuellen Falle natürlich auch Leute, die meinen, ein Musiker, noch dazu ein Popularmusiker, sei von vornherein eine bizarre Wahl für den Literaturnobelpreis. Was letztlich darauf hinausliefe, Lyrik, die nicht im schön gebundenen Buch mit Lesebändchen daherkommt, sondern zur Gitarre gesungen wird, sei keine Literatur - und das ist ja schon rein historisch eine abstruse Prämisse. Die Alten Griechen haben die Lyrik schließlich deshalb Lyrik genannt, weil sie zur Lyra gesungen wurde. Was nun konkret Bob Dylans Dichtung betrifft, wird man nicht leugnen können oder wollen, dass sie in der Tradition des Folksongs wurzelt - aber sollte das keine literarische Form sein? Die Herren Arnim, Brentano und Co. danken für Ihre Stellungnahme! -- Nebenbei bemerkt hat Bob Dylan, noch bevor er seine erste Platte aufnahm, seine Songtexte durchaus auch in Literaturzeitschriften publiziert, aber in gesungener und gespielter Form erreichten sie natürlich ein weit größeres Publikum. Und da haben wir gleich das nächste Problem: Popularität. Der literarische Snob rümpft nun mal gern die Nase über alles, was auch dem ungebildeten Pöbel gefällt. Da könnte man nun natürlich die steile Gegenthese wagen: Große Kunst zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie auch beim ungebildeten Pöbel ankommt. -- Man verstehe mich nicht falsch: Popularität allein ist kein Qualitätsmerkmal. Mangelnde Popularität hingegen könnte durchaus eins sein, nämlich ein negatives. Man komme mir jetzt bitte nicht mit Kleist oder Büchner: Die waren schließlich nicht deshalb zu Lebzeiten so erfolglos, weil die breite Öffentlichkeit ihre Werke nicht verstanden hätte -- die breite Öffentlichkeit hatte gar nicht erst die Gelegenheit, ihre Werke kennenzulernen. Verkannt wurden diese Autoren gerade von den literarisch gebildeten Eliten. Nehmen wir mal ein Beispiel aus einem anderen Bereich: Architektur. Wenn man sich heutzutage die Siegerentwürfe hochdotierter Architekturwettbewerbe ansieht, muss man ja erst mal seitenlange Erläuterungen lesen, warum der eine Schuhkarton angeblich künstlerisch wertvoller sein soll als die anderen Schuhkartons. Wenn man hingegen irgendeinen Müllmann oder Imbissbudenverkäufer in eine gotische Kathedrale stellt - in León zum Beispiel -, dann wird der intuitiv begreifen, dass er ein Meisterwerk vor Augen hat. 

Und dann gibt es natürlich noch die Leute, die von Bob Dylans Dichtung überhaupt keine Ahnung haben und ihn einfach für irgendeinen Schlagerfuzzi halten. Die vielleicht gerade mal "Blowin' In The Wind" kennen, weil das früher im Ferienlager immer am abendlichen Lagerfeuer geklampft wurde; und wenn sie der Meinung sind, das sei ja nun wohl keine nobelpreiswürdige Dichtung, kann man ihnen eventuell zustimmen. Aber Eichendorff würde man ja auch nicht nur anhand des Gedichts "Der frohe Wandersmann" beurteilen (wobei ich persönlich das super finde). 

(Bildquelle hier.) 
Soweit also in aller Kürze meine Entgegnung auf die gängigsten Einwände gegen die Verleihung des Literaturnobelpreises an Bob Dylan. Was hat das aber nun mit dem dunkelkatholischen Echoraum zu tun? -- Nun ja, zunächst mal ist das einfach eine liebevoll-augenzwinkernde Bezeichnung für meine persönliche Filterbubble in den Sozialen Medien. Und wie Filterbubbles das nun mal so an sich haben, habe ich die Nachricht von der Auszeichnung Bob Dylans zunächst einmal durch diese hindurch wahrgenommen. Was mich darauf gebracht hat, das es doch irgendwie ganz interessant sei, zu beobachten, wie die (vermeintlich) erzkonservativ-reaktionär-fundamentalistische Katholen-Szene im Netz Bob Dylan und die Tatsache, dass er den Literaturnobelpreis bekommt, beurteilt. 

Ein einheitliches Bild ergibt sich da natürlich nicht. Schon unter den (laut Bednarz et al.) Galionsfiguren des feuilletonistischen Dunkelkatholizismus herrscht Uneinigkeit: Matthias Matussek fand die Entscheidung des Nobelkomitees "[a]bsoult cool", Alexander Kissler dagegen "ridikül". Nun muss man zugeben, dass man Matussek schon vom Typ her weitaus eher zutrauen würde, auch privat Bob Dylan zu hören, als das bei Dr. Kissler anzunehmen wäre. Aber, siehe oben. De gustibus non est disputandum. Auch sonst verfielen einige katholische Denker angesichts der Verleihung des Literaturnobelpreises an einen zauselhaarigen Zupfgeigenhansel in Kulturpessimismus oder äußerten Einwände der oben sezierten Art; aber insgesamt schien das - jedenfalls in meiner Filterblase, wie gesagt - eine Minderheitenposition zu sein. Meine Facebook-Timeline war und ist voll von Freude und Jubel über diese Ehrung des Folk-Poeten Dylan, und zwar nicht nur auch, sondern vor allem der tief katholische Teil meiner Timeline. Das Dunkelkatholen-Sprachrohr kath.net veröffentlichte einen Artikel, der besonders auf die religiöse Inspiriertheit von Dylans Schaffen abhob und in diesem Zusammenhang auch an seinen Auftritt "vor 300.000 Jugendlichen und dem damals 77-jährigen Johannes Paul II. auf dem Eucharistischen Kongress in Bologna" im Jahr 1997 erinnert - und daran, dass der Papst daraufhin sogar in seiner Predigt auf Dylan-Verse Bezug nahm. (Es wird allerdings auch nicht verschwiegen, dass der damalige Kardinal Ratzinger Einwände gegen Bob Dylans Auftritt bei dieser Veranstaltung hatte.) Und in den Kommentaren unter diesem Artikel tauschen sich Leser bemerkenswert kenntnisreich über Beispiele religiöser Metaphorik in Dylans Songtexten aus. 

Skeptiker oder Spötter mögen nun argwöhnen, wenn das dunkelkatholische Milieu Bob Dylans Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis öffentlich abfeiere, wolle es sich damit populär machen. Diese Einschätzung verkennt allerdings zweierlei: erstens, dass dem echten Dunkelkatholen an kaum etwas so wenig liegt wie am Beifall der Welt; und zweitens, dass die in Sozialen und anderen Medien aktiven Dunkelkatholen keineswegs immer, ja nicht einmal überwiegend eine bruchlose, behütete Biographie im geschlossenen kirchlichen Milieu hinter sich haben, die von Ministrantendienst und Kinderchor geradewegs zum Senioren-Gemeindekaffee führt, sondern im Gegenteil vielfach eine ausgesprochen gewundene spirituelle Reise, die sie mit allerlei Einflüssen jenseits eines solchen geschlossenen Milieus in Berührung gebracht hat. Und dazu gehören wohl für die Allermeisten, die nach dem II. Weltkrieg sozialisiert wurden, nicht zuletzt Einflüsse aus der Rock- und Popkultur - in der nun wiederum Bob Dylan eine Bedeutung hat, die gar nicht überschätzt werden kann. Womit ich sagen will: Die (oder, wenn ich mich selbst da mal mit einschließen darf, WIR) tun nicht nur so, als fänden wir Bob Dylan toll, sondern das kommt wirklich von Herzen. 

Exemplarisch deutlich wird das etwa an Bischof Robert Barron, der auf der von ihm begründeten Website "Word on Fire" schon mehrfach Beiträge veröffentlicht hat, die sich mit der Poesie Bob Dylans auseinandersetzen (siehe z.B. hier, hier und hier). Anlässlich der Bekanntgabe der Entscheidung des Nobelkomitees schreibt Bischof Barron auf Facebook
"Freunde, ich war absolut begeistert, als ich erfuhr, dass Bob Dylan mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet wird. Ich habe Dylan zum ersten Mal gehört, als ich 13 war - eine Live-Version von "A Hard Rain's Gonna Fall" aus dem Concert for Bangladesh -, und seitdem bin ich ein Fan. [...]
Dylans Themen sind natürlich vielfältig - Politik, Konflikte des Herzens, Krieg und Frieden und so weiter. Aber sein eigentlich beherrschendes Thema, vom Beginn seiner Karriere an, ist der Gott der Bibel. [...]
Er steht sehr stark in der Tradition der großen Propheten und Weisen Israels; wie Jakob hat er sein Leben lang mit Gott gerungen." 
Kann man dieses Lob noch übertreffen? ich wüsste nicht wie, darum höre ich jetzt auf. Herzlichen Glückwunsch, Mr. Dylan!  

Donnerstag, 13. Oktober 2016

Die Stimme seines Herrn

Gestern sagte ich mir, am Nachmittag könnte ich mir eigentlich ein bisschen Zeit nehmen, um zur Eucharistischen Anbetung zu gehen. -- Ich sollte dazu erwähnen, dass ich die Eucharistische Anbetung erst seit relativ kurzer Zeit für mich entdeckt habe, seit zwei, zweieinhalb Jahren, würde ich mal schätzen, und dann auch nur so nach und nach. Aus meiner Kindheit und Jugend kenne ich diese Gebetspraxis nicht, obwohl ich eigentlich sehr "kirchennah" aufgewachsen bin. Dass es diese Praxis in meiner Heimatgemeinde in Butjadingen nicht gegeben hätte, möchte ich nicht behaupten; aber wenn ich damals nichts davon mitbekommen habe oder es so wenig Eindruck auf mich gemacht hat, dass ich mich heute nicht mehr daran erinnern kann, dann sagt das ja auch schon was aus. Ich wurde, kurz gesagt, als Kind bzw. Jugendlicher nicht an die Eucharistische Anbetung "herangeführt" - wie an so vieles Andere aus der reichen Schatzkammer des katholischen Glaubens auch nicht. Seufz. Und das, obwohl ich doch so kirchennah aufgewachsen bin. Aber ich wiederhole mich. 

Dafür, dass ich schließlich doch noch einen Draht zur Eucharistischen Anbetung gefunden habe, war es hilfreich, dass mein kürzlich gekündigter Arbeitsplatz in unmittelbarer Nähe der Kirche St. Clemens in Berlin-Kreuzberg lag - und in dieser Kirche wird Ewige Anbetung praktiziert, tatsächlich rund um die Uhr. Ich würde sagen, in dieser Kirche habe ich erstmals bewusst wahrgenommen, wie Menschen unterschiedlichster Herkunft und unterschiedlichen Alters voller Hingabe vor dem Allerheiligsten knien, und irgendwie muss mich das darauf gebracht haben, dass an der Sache ja wohl was dran sein müsse. Und dann bin ich irgendwann mal zu Nightfever gegangen (und seitdem immer wieder). Und das war ein ganz entscheidender Schritt dazu, mir die Schönheit und Faszination der Eucharistischen Anbetung zu erschließen. -- Man könnte ja meinen (und, je nach Einstellung, gegebenenfalls auch kritisieren), dass das "Gesamtpaket" Nightfever - die späte Stunde, das Kerzenlicht, die Musik... - auf emotionale Überwältigung ausgerichtet sei; aber nach meiner Erfahrung ist das Faszinierende an Nightfever, dass das Herz und die Seele des Ganzen tatsächlich die Gegenwart des Eucharistischen Herrn ist und die ganze - wenn man so will - "Inszenierung" nicht etwa davon ablenkt, sondern vielmehr darauf hin lenkt. Ich kann Nightfever nur empfehlen. Aber ich gehe, wenn es sich einrichten lässt, auch gern zur stillen Anbetung in "ganz normale" Kirchen. Wenn es keine Aussetzung des Allerheiligsten gibt, ist Anbetung durchaus auch vor dem geschlossenen Tabernakel möglich. Wobei das für mein Empfinden doch nicht ganz dieselbe Intensität hat. 

Gestern jedenfalls wollte ich zur Anbetung in die Kirche St. Nikolaus im Stadtteil Friedrichshain gehen. Bis vor kurzem habe ich da ganz in der Nähe gewohnt, dennoch hatte ich lange Zeit überhaupt nichts von der Existenz dieser Kirche gewusst. Was insofern vielleicht erklärlich ist, als das Gebäude äußerlich überhaupt nicht als Kirche zu erkennen ist - ein niedriger, unansehnlicher Bau im Schatten der Protz-Wohnblöcke der Stalinallee. Erst kürzlich wurde ich darauf aufmerksam gemacht, dass in St. Nikolaus - früher einmal der Sitz der Katholischen Studentengemeinde der Humboldt-Uni - seit 2004 die Gemeinschaft "Brot des Lebens" ansässig ist und dass es dort an vier Tagen in der Woche jeweils vier Stunden Eucharistische Anbetung gibt. Seither war ich einmal dort gewesen und hatte mir vorgenommen, demnächst öfter hinzugehen. 


Allerdings ging es mir gestern eigentlich überhaupt nicht gut. Einerseits hatte ich immer noch mit der Männergrippe zu kämpfen, andererseits war ich am Abend zuvor trotzdem in den Pub meines Vertrauens gegangen und hatte dort vor lauter Freude darüber, dass mir das Bier doch schon wieder schmeckt, eins zuviel getrunken. Und dann war ich zwar zu einer einigermaßen zivilen Zeit zu Hause gewesen, aber statt mich direkt schlafen zu legen, hatte ich mich an Sir John Retcliffes Roman "Solferino" festgelesen. Bis zwei oder drei Uhr nachts. Das Buch ist einfach so spannend, was sollte ich machen. Eigentlich wäre ich also gestern am liebsten den ganzen Tag im Bett geblieben. Machte ich aber nicht, sondern schrieb am frühen Nachmittag einen angefangenen Blogartikel fertig, und dann machte ich mich doch auf den Weg nach Friedrichshain. 

Eigentlich wäre die U-Bahn-Station Frankfurter Tor am nächsten dran gewesen, aber aus alter Gewohnheit - weil ich da wie gesagt bis vor Kurzem gewohnt habe - stieg ich schon an der Weberwiese aus und hatte somit einen etwas längeren Fußweg. In der Hildegard-Jadamowitz-Straße spazierte eine Familie vor mir her, oder genauer gesagt: eine Frau, zwei oder drei Kinder im Vor- oder Grundschulalter und ein ziemlich großer Hund; und ich dachte spontan, dass ich es schön fände, wenn die auch zur Anbetung wollten. Darüber, ob das eine realistische Annahme war, machte ich mir überhaupt keine Gedanken. Wie sich zeigte, wollte zumindest der Hund anscheinend wirklich zur Anbetung, jedenfalls strebte er sehr entschlossen auf die Haustür mit der Nummer 25 zu. Aber die Familie hatte offenbar andere Pläne. Schade eigentlich. 

Nun war ich wie gesagt verschnupft, ein bisschen verkatert und unausgeschlafen und hatte das vage Gefühl, das seien nicht gerade ideale Voraussetzungen für eine erbauliche Anbetung. Aber glücklicherweise war mir auf dem Weg von der U-Bahn bis zur Kirche halb unbewusst ein Lied durch den Kopf gegangen, das auch beim Nightfever immer gern gesungen wird und von dem ich aus Urheberrechtsgründen hier nur ein paar Verse zitiere: 
"Herr, ich komme zu Dir
Und ich steh vor Dir so wie ich bin.
[...]
Was mich hindert, ganz bei Dir zu sein, räume aus." 
Das ist genau der Punkt. Come as you are. Man kann vielleicht der Meinung sein, man sei gerade "nicht in der richtigen Stimmung" zur Anbetung, aber eigentlich ist es egal, in was für einer Stimmung man gerade ist. Man muss diese Stimmung nur vor Gott bringen, und alles Weitere ergibt sich. 

Ich trete ein --- Stille. Eine so intensive Stille, dass sie mir geradezu laut vorkommt. Die Luft hier drin scheint irgendwie schwerer zu sein als draußen, aber es ist eine angenehme Schwere. 
Setz dich erst mal hin. Nimm dir Zeit, anzukommen. Sage ich mir das selber, oder...? 
Außer mir sind eine Frau und ein Mann in der Kirche. Die Frau geht, kurze Zeit nachdem ich angekommen bin, hinaus. Ich vermute, dass beide zur Gemeinschaft Brot des Lebens gehören und sich gerade bei der "Gebetswache" abgelöst haben, denn es ist gerade die volle Stunde durch. 
Nach ein paar Minuten gehe ich wie von selbst vom Sitzen zum Knien über. Eine halbe Stunde, so hatte ich es mir vorgenommen, wollte ich hierbleiben. Schweigen. Still ein Gebet aus dem Gotteslob lesen, genauer gesagt: zwei. Wieder schweigen. In Gedanken ein Lied singen. Und wieder schweigen. Ich muss mir nicht überlegen, was davon ich wann tun will. Es kommt einfach ganz natürlich. Und ehe ich's mich versehe, ist die halbe Stunde vorbei. Ich bleibe noch ein bisschen. 

Vom Pfarrer von Ars wird berichtet, er habe in seiner Kirche regelmäßig einen einfachen Bauern angetroffen, der oft stundenlang vor dem Tabernakel verharrte. Als der Pfarrer ihn einmal darauf ansprach, was er da eigentlich so lange mache, antwortete der Bauer: "Ich schaue Ihn an, und Er schaut mich an. Das genügt." Das ist für mich die schönste Beschreibung dessen, worum es in der Eucharistischen Anbetung geht. Aber so einfach sich das anhört, so schwer ist es, das wirklich in die Tat umzusetzen. Für mich jedenfalls. Es gibt bestimmt Menschen, denen es leichter fällt als mir. In der Kathedrale von Santiago, vor etwa sechs Wochen, hat mir ein Priester als geistliche Übung aufgegeben, vor Gott still zu sein. Das übe ich seitdem. Einfach mal die Klappe halten. Nicht nur die Zunge zum Schweigen bringen, sondern auch die Gedanken. Still sein und offen, auf Gott hin geöffnet. Bisher gelingt mir das kaum je länger als drei, vier Sekunden am Stück. Aber in diesen wenigen Sekunden ist das Bewusstsein der Gegenwart Gottes so intensiv, so überwältigend, dass ich mich manchmal frage, wie man das überhaupt länger aushalten können sollte. 

Und das Komische ist, mit meinem verschnupften, verkaterten, unausgeschlafenen Kopf gelingt mir das sogar besser als sonst. 

Als ich die Kirche verlasse, fühle ich mich wie innerlich aufgeräumt. Das geht mir jedesmal so nach der Eucharistischen Anbetung. Mal ist das Gefühl intensiver, mal weniger intensiv, aber es ist immer da

Ich gehe bald wieder hin. 



Mittwoch, 12. Oktober 2016

Case in Point: Frisches Feedback zu "Wenn zwei das Gleiche tun..."

[Edit 24.10.: Der folgende Artikel ist mit Wut im Bauch geschrieben, und das merkt man ihm in einzelnen Passagen allzu deutlich an. Die inhaltlichen Aussagen zu den darin verhandelten Sachthemen betrachte ich nach wie vor als richtig und lasse sie darum stehen; allerdings habe ich mich in mehreren Diskussionen davon überzeugen lassen, dass der Text sich stellenweise allzu sehr wie ein persönlicher Angriff auf meinen darin mehrfach zitierten Debattengegner liest. Im Laufe der hier auszugsweise nachgezeichneten Twitter-Diskussion haben wir uns offenkundig gegenseitig mehrfach kräftig auf dem falschen Fuß erwischt, und das hat da eine Aggressivität hereingebracht, die der Sache eigentlich nicht dienlich ist. Da ich de Text jetzt nicht noch einmal komplett umarbeiten will, bite ich meine Leser, sich die allzu polemischen Töne selbst "wegzudenken"...] 

Mein voriger Artikel, in dem ich die aggressiven Störungen ökumenischer Gottesdienste beim Marsch für das Leben in Berlin am 17.09. und beim Festakt zum Tag der Deutschen Einheit in Dresden am 03.10. zum Anlass für einige Beobachtungen zum "Rechts-Links-Lagerdenken" genommen habe, hat recht schnell ein ziemlich beachtliches Echo gefunden. Das ist natürlich schön. Wenn ein Artikel allerdings Reaktionen herausfordert, die exakt das Argumentationsschema reproduzieren, das der Artikel kritisiert hat, dann ist das... nun ja... ein bisschen tragikomisch.  

Ich war nicht gerade überrascht, dass just jener bloggende und twitternde Theologiestudent, von dem ich in dem betreffenden Artikel einige Tweets zitiert und verlinkt hatte (und der, so gesehen, nicht unerheblichen Anteil an der Entstehung des Artikels hatte), prompt reagierte. Die Art der Reaktion war allerdings [...] etwas enttäuschend. 
"Findest du wirklich, dass Linke die für Frauenrechte demonstrieren, das gleiche sind wie Rechte, die Schwarze beschimpfen?" 
Stürzen wir uns nicht gleich auf die Formulierung "für Frauenrechte demonstrieren". Mich darauf einzuschießen, war meine unmittelbare Reaktion auf Twitter, und ich werde auch hier noch darauf zurückkommen. Aber stellen wir uns ruhig erst mal vor, M.M. hätte die Position der Krawallmacher gegen den Marsch für das Leben in etwas weniger euphemistische Worte gekleidet. Auch dann bewiese diese Reaktion immer noch, dass er entweder nicht willens oder nicht fähig gewesen ist, der Argumentation meines Artikels zu folgen. Er verfällt prompt wieder in ebenjenes Lagerdenken, das ich just kritisiert habe - mit anderen Worten, er stellt selbst die "falsche Äquivalenz" her, die er zuvor bizarrerweise mir unterstellt hatte -- indem er annimmt, man könne die eine Pöbelei gegen die andere aufrechnen, weil sie aus vermeintlich einander entgegengesetzten "Lagern" kommen. Halten wir im Vorübergehen fest, dass hier auch nicht mehr von der Störung zweier Gottesdienste die Rede ist. Gerade der Punkt war aber doch wesentlich für meine Argumentation. Mag man anerkennen, dass die Auffassung oder Behauptung, es gehe um "Frauenrechte", für die Mobilisierung zu den Protesten gegen den Marsch für das Leben eine erhebliche Rolle spielt; wer die Proteste mal erlebt hat, weiß aber, dass sich in ihnen noch ganz andere Haltungen artikulieren - darunter, nicht zuletzt, ein geradezu fanatischer Hass auf das Christentum. Dass es diesen am vermeintlich entgegengesetzten Ende des politischen Spektrums ebenso gibt und dass sich dieser Umstand z.B. in den Gottesdienststörungen von Berlin und Dresden widerspiegelt, war für mich eine ganz wichtige Feststellung -- interessiert M.M. aber nicht. Zur Krawalligkeit der Proteste gegen den Marsch für das Leben merkt er lediglich an: 
"Über die Form sind wir uns schon einig. Aber was ist mit dem Inhalt?" 
Hm. Wie schrieb ich doch in meinem besagten Artikel: 
"Man kann die Art und Weise des Protests unfein finden, aber damit hört es dann meist auch schon auf." 
 Q.e.d., sach ich ma'.

Dass ich, wie oben schon angekündigt, gegen die Formulierung "Linke, die für Frauenrechte demonstrieren" Protest einlegte, quittierte M.M. mit einem verbalen Achselzucken: 
"Das hab’ ich schon verstanden, dass du das nicht richtig findest, dass Frauen ein Recht auf Abtreibung haben sollen." 
Dass ich das nicht richtig finde. So als ginge es hier bloß um persönliche Meinungen. Aber direkt darauf folgte dies
"Aber findest du, dass diese Forderung genau so 'schlimm' ist wie die, dass Ausländer Menschen zweiter Klasse sein sollen?"
Obacht: Fangfrage! Hatte oder hatte ich nicht in meinem fraglichen Artikel geschrieben, "dass rassistische Beschimpfungen unter keinen Umständen zu billigen sind"? -- Kurz mal nachgeschaut: Hatte ich. Dabei hätte ich diese Feststellung fast für überflüssig gehalten, weil es mir so selbstverständlich schien. Und wie sich nun zeigt, war es auch überflüssig, aber aus einem anderen Grund, als ich gedacht hätte: Diese Klarstellung nützt nämlich nichts. Man kommt trotzdem nicht aus der Schublade raus, in der der Andere einen sehen möchte. Abermals das von ihm selbst an anderer Stelle getadelte Stilmittel der falschen Äquivalenz bemühend, versucht M.M. mich also dazu zu provozieren, seine Frage zu bejahen, womit er mich dann zum Rassisten stempeln könnte. [Edit: So habe ich das jedenfalls aufgefasst. Womit nicht behauptet werden soll, dass das tatsächlich seine Intention war.] Sollte ich die Frage aber deshalb verneinen? 

Schauen wir uns den konkreten Fall, von dem hier die Rede war, noch einmal genau an. Ein Mann mit dunkler Hautfarbe will am ökumenischen Gottesdienst in der Dresdner Frauenkirche teilnehmen und wird auf dem Weg dorthin von einem fremdenfeindlichen Mob mit Affenlauten und "Abschieben!"-Rufen empfangen. Finde ich das schlimm? Allerdings! Der Mann wurde in seiner Menschenwürde gekränkt, und es ist empörend und beschämend, dass es Leute gibt, die sich offenbar einbilden, sie hätten das Recht, ihn so zu behandeln. -- Und finde ich das Verhalten dieser Leute genauso schlimm wie die Forderung nach einem "Recht auf Abtreibung"? Dazu ist zunächst einmal anzumerken, dass diese Frage eine Vermischung von Kategorien bedeutet. Es ging mir in meinem vorigen Artikel ja primär gar nicht um die inhaltliche Seite des Marschs für das Leben, sondern um das Verhalten der Gegendemonstranten - das ebenfalls Menschen in ihrer Würde verletzt, wenn auch nicht wegen ihrer Hautfarbe, sondern wegen ihrer Überzeugungen. Warum jetzt das Eine schlimmer (oder weniger schlimm) sein sollte als das Andere, dürfte schwierig zu begründen sein. -- Nun wollte Freund M.M. aber erkennbar auf etwas Anderes hinaus, nämlich um eine Bewertung der Beweggründe der jeweiligen Pöbler für ihr Verhalten. Auf der einen Seite verortet er die Auffassung, "dass Ausländer Menschen zweiter Klasse sein sollen". Eine solche Auffassung, da werden wir zwei uns wohl leicht einig, ist ein Affront gegen die bedingungslose Menschenwürde und daher zu ächten. Und dann haben wir auf der anderen Seite die Forderung nach einem "Recht auf Abtreibung". Das ist ebenfalls ein Affront gegen die bedingungslose Menschenwürde -- und hat weitaus dramatischere Konsequenzen. Abtreibung tötet. Täglich. Allein in Deutschland, laut den aktuellen Quartalszahlen (die im Vergleich zu früheren Jahren sogar relativ niedrig sind), durchschnittlich 416 Kinder pro Werktag. Und das bei einer Gesetzeslage, die gerade kein "Recht auf Abtreibung" vorsieht. Dem Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung, das eine vollständige Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs fordert, sind diese Zahlen also wohl noch nicht hoch genug. Tut mir leid: Das kann ich nicht weniger schlimm finden als irgend etwas Anderes. Nicht einmal genauso schlimm. Das ist schlimmer, weit schlimmer als irgendetwas Anderes, das in diesem Land geschieht. 

Aber darum ging es ja, wie gesagt,eigentlich gar nicht bzw. hätte es gar nicht gehen sollen - nicht in dem Artikel jedenfalls, so wichtig mir das Thema Lebensschutz ansonsten auch ist. Ich habe meinen Artikel noch einmal nachgelesen und finde, so schwer ist es eigentlich nicht, zu verstehen, worum es da geht: um die - wie es scheint, zunehmende - Tendenz, Alles und Jedem reflexartig einem von zwei politischen "Lagern" zuzuordnen und nach strikter Freund-Feind-Logik zu beurteilen. Aber okay: Auch wenn M.M. das nicht verstanden hat (oder verstehen wollte) die Diskussion, die der Artikel ausgelöst hat, seiner Intention für mein Empfinden nicht wirklich gerecht geworden ist, hat er sie (die Diskussion) doch ziemlich gutes Anschauungsmaterial dafür geliefert.  

Auch was wert. 



Wenn zwei das Gleiche tun...

...ist es noch lange nicht dasselbe, pflegte meine Mutter zu sagen, als meine Geschwister und ich noch Kinder waren. Wie sehr sie mit dieser Aussage Recht hatte, sieht man nirgends so deutlich wie in der Welt der Politik - oder, genauer gesagt, der medialen Repräsentanz von Politik. Man könnte hierfür eine Reihe von Beispielen aus dem inländischen wie aus dem internationalen Bereich anführen, aber ich will hier und jetzt auf einen ganz bestimmten Fall hinaus. 

Neulich war Tag der Deutschen Einheit, und der offizielle Festakt zu diesem Feiertag findet stets in demjenigen Bundesland statt, das jeweils gerade den Vorsitz im Bundesrat inne hat. In diesem Jahr also in Sachsen. Dass dieser Umstand zu Konflikten führen könnte, haben viele Beobachter vorausgesehen - schließlich ist Sachsens Landeshauptstadt Dresden die Wiege der rechtspopulistischen PEGIDA-Bewegung, und darüber hinaus hat das südöstlichste deutsche Bundesland in jüngerer Zeit mehr durch immigrantenfeindliche Gewaltverbrechen und sonstige rechtsgerichtete Ausschreitungen von sich reden gemacht als durch irgendetwas Anderes. Tatsächlich kam es dann im Umfeld des Festakts zum Tag der Deutschen Einheit in Dresden zu aggressiven Protesten gegen die Regierung, zum Teil in Form äußerst grober Pöbeleien und Parolen aus dem Repertoire der NS-Ideologie. Nicht zuletzt wurde der ökumenische Festgottesdienst in der Frauenkirche lautstark gestört und ein dunkelhäutiger Gottesdienstbesucher rassistisch beleidigt. 

Ich muss wohl kaum betonen - tue es aber vorsichtshalber trotzdem -, dass rassistische Beschimpfungen unter keinen Umständen zu billigen sind; in diesem speziellen Fall könnte man hinzufügen, dass es doch sehr zu denken gibt, wenn Leute, die sich einer Bewegung zurechnen, die sich die Verteidigung des Abendlandes (ein historisch eng mit dem Christentum verbundener Begriff!) auf die Fahnen geschrieben hat, einen christlichen Gottesdienst stören und einen aufgrund seiner Hautfarbe als "fremd" identifizierten Menschen verbal attackieren, der an diesem Gottesdienst teilnehmen will. 

Die Empörung, die landauf, landab auf diese Pöbelszenen antwortete, betrachte ich daher als in der Sache vollkommen berechtigt; aber etwas fiel mir (und nicht nur mir) daran doch unangenehm auf: nämlich die Abwesenheit vergleichbarer Reaktionen in anderen, prinzipiell ähnlichen Fällen. 

Als exemplarisch für die öffentlichen Reaktionen auf die Dresdner Ereignisse möchte ich hier eine Stellungnahme des im "Bündnis für ein offenes Dresden" aktive Medizinprofessors Gerhard Ehninger zitieren, die eifrig über die Sozialen Netzwerke verbreitet wurde:
"Wann gab es das zuletzt, dass ein Gottesdienst mit Hass und Trillerpfeifen gestört wurde? Wann wurden zuletzt Gottesdienstbesucher beschimpft und angeschrien?" 
Hm. Wann gab es das zuletzt? Nun, beispielsweise etwas mehr als zwei Wochen zuvor in Berlin, beim ökumenischen Abschlussgottesdienst zum Marsch für das Leben, der von dem Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer zelebriert wurde und bei dem der evangelische Pastor Dr. Werner Neuer predigte. Die feindseligen Ausschreitungen gegen diesen Gottesdienst habe ich aus nächster Nähe mitbekommen. Der augenfälligste Unterschied zu den Dresdner Vorfällen bestand darin, dass die Gottesdienststörer hier "Linke" waren.

Aber okay, vielleicht wusste Prof. Ehninger davon nichts. Vielleicht hatte auch sonst niemand im Bündnis für ein offenes Dresden und niemand, der seine "Wann gab es das zuletzt...?"-Stellungnahme als Visual weiterverbreiteten, von den Ausschreitungen in Berlin gehört. Kann ja sein, ist ja nicht unbedingt ehrenrührig, das nicht zu wissen. Aber was jemand nicht weiß, darauf kann man ihn ja hinweisen.

Doch was passiert, wenn man in den Sozialen Netzwerken auf diesen Umstand hinweist? Man bekommt reflexartig den Vorwurf aufgetischt, man wolle mit diesem Hinweis die Ausschreitungen der Rechten in Dresden relativieren. Man mache eine "falsche Äquivalenz" auf, ja, man versuche, "das eine mit dem anderen zu rechtfertigen". -- Hoppla, was ist denn da kaputt? Bei alle Unterschieden des Kontexts kann man doch wohl festhalten, dass beide Vorfälle sich in einem Punkt gleichen: In beiden Fällen wurden Christen (konfessionsübergreifend: Es handelte sich in beiden Fällen um ökumenische Gottesdienste) in ihrem Recht auf ungestörte Religionsausübung verletzt. Wie kann man da auf die Idee kommen, der eine Fall würde den anderen rechtfertigen?

Was sich hier offenbart, ist ein bedenkliches Rechts-Links-Lagerdenken: Wenn "Rechte" etwas tun, ist das prinzipiell etwas völlig Anderes, als wenn "Linke" etwas tun, auch und gerade dann, wenn das, was sie tun, im wesentlichen das Gleiche ist. Ja, mehr noch: Wer etwas kritisiert, was "Linke" tun, setzt sich damit automatisch dem Verdacht aus, selbst irgendwie "rechts" zu sein, was dann leicht zu der Unterstellung führt, man müsse mit allem, was "Rechte" tun, zu einem gewissen Grad sympathisieren. Natürlich könnte man diesen Vorwurf auch umkehren, aber dadurch würde er erstens nicht richtiger, und zweitens würde das auch deshalb nichts nützen, weil die moralischen Gewichte ungleich verteilt sind. Es hat sich in Deutschland eingebürgert, alles, was irgendwie "rechts" ist oder von Anderen so eingeordnet wird, mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zu assoziieren, und deshalb ist der "Kampf gegen Rechts" so etwas wie ein gesellschaftlicher Grundkonsens. Wer versuchen wollte, alles, was irgendwie "links" ist, mit den Verbrechen des Stalinismus in Verbindung zu bringen, könnte sich auf lautstarken und empörten Widerspruch gefasst machen.

Hinzu kommt: Wenn "Linke" gegen etwas protestieren - auch wenn es ein Gottesdienst ist -, dann gehört dieser Protest zumindest aus deren eigener Sicht prinzipiell zum "Kampf gegen Rechts", und das macht es so schwer, ihn zu kritisieren. Man kann die Art und Weise des Protests unfein finden, aber damit hört es dann meist auch schon auf. Im Falle der Störaktionen gegen den Abschlussgottesdienst zum Marsch für das Leben kommt erschwerend hinzu, dass der Marsch für das Leben auch außerhalb explizit linksradikaler Kreise als "rechts" gilt. Diese Auffassung wird weithin mit einer solchen Selbstverständlichkeit vertreten, dass sie scheinbar kaum noch begründet oder erläutert zu werden braucht. Wer dieser Einschätzung dennoch widerspricht, bekommt gern lustige Diagramme aufgetischt, die die Verflechtungen zwischen dem Marsch für das Leben und der "Neuen Rechten" "belegen" sollen.

Symbolbild: Nichtssagende Diagramme. (Bildquelle hier.) 

Als ich unlängst auf Twitter die Dreistigkeit besaß, die beiden genannten Fälle von Gottesdienststörung miteinander zu vergleichen, wurde mir doch tatsächlich der Einwand präsentiert, "beim Klientel vom MfdL und Pegida" bestehe "mit Sicherheit eine nicht unwesentliche Schnittmenge". Diese - wie man wohl neuerdings sagt - "postfaktische" Einschätzung heimste dann auch direkt einige "gefällt mir"-Angaben ein. -- Nun gut, atmen wir einmal tief durch und erwägen wir: Dass es da eine gewisse Schnittmenge geben könnte, kann ich nicht ausschließen. Unter einer Regierung, die ihr Handeln als "alternativlos" darstellt und der keine nennenswerte parlamentarische Opposition gegenübersteht, bilden sich in den Kreisen derer, die sich politisch durch niemanden adäquat vertreten fühlen, zuweilen sehr sonderbare Allianzen. Für besonders signifikant möchte ich die (hypothetische) Schnittmenge zwischen MfdL und PEGIDA jedoch nicht halten, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: Ich bin zwar kein Soziologe, halte es aber für relativ offensichtlich, dass die PEGIDA-Bewegung in der Breite hauptsächlich von Leuten getragen wird, die im Grunde gern die DDR zurück hätten, nur mit Reisefreiheit und D-Mark (sic). Und diese Zielgruppe ist ganz bestimmt nicht gegen Abtreibung. Aber selbst wenn ich mit dieser quasi-soziologischen Einschätzung falsch liegen sollte: Für die Rechte von Schwachen und Wehrlosen einzutreten - als da wären Ungeborene, Behinderte und chronisch Kranke -, ist von den Anliegen von PEGIDA ja wohl so weit entfernt wie nur was.

Aus der Sicht eines festgefügten Rechts-Links-Lagerdenkens stellt sich das jedoch anders dar. Beide, MfdL und PEGIDA, werden von der eigenen Warte aus als "rechts" verortet, also MUSS es da ja einen Zusammenhang geben. Was aber offensichtlich Quatsch ist. -- Ich habe schon an anderer Stelle darüber räsonniert, ob die aus dem 19. Jh. stammenden Kategorien "rechts" und "links" heutzutage überhaupt noch dazu geeignet sind, das politische Meinungsspektrum abzubilden. Aber selbst wenn man der Meinung ist, solange diese Begriffe noch allgemein üblich seien, müsse man auch mit ihnen arbeiten, ist es ein unschwer einzusehender Irrtum, anzunehmen, die radikale Linke und die radikale Rechte, oder sagen wir: rechter und linker Populismus, seien Gegensätze. Wäre das so, wie wollte man erklären, dass Zehntausende von AfD-Wählern in den neuen Bundesländern in den vorigen Wahlperioden noch Die Linke gewählt haben? Wie wollte man erklären, dass in einer Umfrage jeder dritte AfD-Wähler Die Linke als Zweitpräferenz angegeben hat? Man kann sich auch mal das zweifelhafte Vergnügen machen, auf Facebook die Profile von Nutzern aufzurufen, die in den Kommentarschlachten unter den Beiträgen von Tagesschau, SPIEGEL oder anderen großen Nachrichtenmedien durch besonders ruppige Äußerungen gegen die Regierung, die etablierten Parteien oder gegen Migranten auffallen. Diese Leute haben vielfach eine ausgeprägte Tendenz, viele Beiträge öffentlich zu teilen, sodass sich ein recht buntes Bild ergibt. Auf nicht wenigen solcher Facebook-Profile findet sich Populistisches jeglicher Couleur, von Lutz Bachmann, Björn Höcke und Akif Pirinçci bis hin zu Oskar Lafontaine, Sahra Wagenknecht und Volker Pispers, einträchtig neben- bzw. untereinander.

Was man in den Sozialen Netzwerken ebenfalls sehr gut beobachten kann - und damit komme ich zum Thema "Gottesdienststörung" zurück -, ist, dass man eine tiefe Verachtung gegenüber Religion im Allgemeinen und den christlichen Kirchen im Besonderen ebenso bei Rechtspopulisten und -extremisten findet wie in weiten Teilen des linken Spektrums. Hier wie dort grassieren derselbe Vulgäratheismus, dieselben "Schwarzen Legenden" aus dem Bereich der Kirchengeschichte und sonstige gut abgehangene Vorurteile gegen gläubige Menschen und religiöse Institutionen. Das ist auch kein Wunder, denn religiöser Glaube im Allgemeinen und christlicher Glaube im Besonderen stehen dem Totalitätsanspruch "rechter" wie "linker" Ideologien nun einmal prinzipiell im Weg. Da passt es dann schon irgendwie ins Bild, wenn beide Seiten sich ausgerechnet Gottesdienste als Angriffsziel aussuchen.

Dass es dennoch nicht wenige konservative Christen gibt, die in der herrschenden Atmosphäre des grassierenden Populismus mit rechtsgerichteten politischen Kräften sympathisieren, weil diese ihnen gegenüber den Linken als das geringere Übel erscheinen, ist letztlich demselben Lagerdenken geschuldet, das ich oben von der anderen Seite her beschrieben habe. Ich halte dieses Lagerdenken für falsch und gefährlich -- und auch und nicht zuletzt hierfür könnten und sollten die Dresdner Krawalle vom 3. Oktober eine Lehre sein.



Dienstag, 11. Oktober 2016

Christsein im Konjunktiv

Eigentlich hat mich ja gerade die verheerende Männergrippe in ihren Klauen, aber gestern Abend fühlte ich mich dennoch gesund genug, um zu einer Veranstaltung zu gehen, zu der ich über den Mailverteiler der Katholischen Akademie in Berlin e.V eingeladen worden war: "Leben im Transitbereich", ein Impulsvortrag mit anschließender Diskussion im Rahmen der "Nikodemusgespräche", einer Veranstaltungsreihe, die sich als "Geistliche Ideenwerkstatt zur Zukunft der Kirche in Berlin" versteht. Wobei das Stichwort "Zukunft der Kirche in Berlin" explizit im Zusammenhang mit dem Pastoralen Prozess "Wo Glauben Raum gewinnt" zu sehen ist, also dem Prozess der Zusammenlegung von Pfarreien zu sogenannten "Pastoralen Räumen"

Wie einige meiner Leser sich erinnern werden, war ich schon einmal bei einer Veranstaltung dieser Reihe gewesen; aber das war wohl ein eher untypisches Exemplar gewesen, denn da hatte Wolfgang Thierse den Impulsvortrag gehalten - und der ist nun mal Politiker von Beruf und hatte gleich zu Beginn seines Vortrags angekündigt, er werde "nicht sonderlich fromm" sprechen. Ja, in gewissem Sinne hatte er die ganze gedankliche Voraussetzung dieser "Nikodemusgespräche" frontal angegriffen, indem er scharf kritisierte, dass der Prozess der Bildung "Pastorales Räume" im Erzbistum Berlin zu einem geistlichen Prozess deklariert worden sei - "denn damit macht man ihn unangreifbar!". Aber hey, bei den Nikodemusgesprächen ist man höflich zu den Stargästen und verargt es ihnen auch nicht, wenn sie einem auf den Teppich pinkeln. Zumal es nicht auszuschließen ist, dass Thierse genau zu diesem Zweck eingeladen wurde. 

Wie es sich anhört, wenn im Rahmen dieser Veranstaltungsreihe "fromm gesprochen" und ernsthaft versucht wird, den Strukturreformen des Erzbistums eine geistliche Komponente abzugewinnen, davon durfte ich mir also gestern ein Bild machen. Bereits in meinem Bericht zur Thierse-Veranstaltung hatte ich angemerkt, dass der Ort der Veranstaltungsreihe - die Gedenkkirche Maria Regina Martyrum - sich "schon rein architektonisch hervorragend für Träume oder Alpträume von einer anderen, der Zukunft zugewandten Kirche eignet"; an gleicher Stelle hatte ich mich auch bereits über den Ankündigungstext für die Veranstaltungen dieser Reihe mokiert, in dem es heißt: 
"Wenn wir an die Kirche der Zukunft denken, was trauen wir Gott zu? Wohin brechen wir auf, was lassen wir zurück? Mit der Kraft des gläubigen Staunens rechnen und sich freuen am aufkommenden Wind." 
Windhauch, Windhauch, sagte Kohelet, Windhauch, Windhauch, das ist alles Windhauch. Der Rektor der Gedenkkirche, Pater Tobias Zimmermann SJ, eröffnete die jüngste Ausgabe der "Nikodemusgespräche" mit einem "Gebet", und siehe, auch das war Windhauch und Luftgespinst. Es war eigentlich eher ein Gedicht, wenn auch an mehreren Stellen unterbrochen durch einen Kehrvers aus dem Gotteslob; Autor und Titel wurden nicht genannt, sonst könnte ich jetzt versuchen, den Text irgendwo im Netz auszugraben und daraus zu zitieren. Würde sich aber kaum lohnen. Es kamen einige biblische Motive darin vor, beispielsweise Jakobs Kampf mit dem Engel (Genesis 32,23-33), aber im Großen und Ganzen war es vieldeutiges, schwammiges, ja nebelhaftes Geraune. Insofern eine, wie sich zeigte, durchaus adäquate Einstimmung auf das, was noch kommen sollte. 

Den Impulsvortrag hielt Schwester Prof. Dr. Margareta Gruber OSF, Franziskanerin und Professorin für Neues Testament und Biblische Theologie an der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Vallendar. Ich sag mal so: Die Professorin konnte man ihr ansehen, die Ordensschwester eher nicht. Es gibt natürlich Ordensgemeinschaften, zu deren speziellem Charisma es gehört, in "Zivilkleidung", sprich: ohne Habit in der Welt zu leben. Die Franzikanerinnen von Siessen, denen Sr. Margareta angehört, gehören eigentlich nicht dazu, allerdings stellt diese Ordensgemeinschaft ihren Mitgliedern das Tragen des Habits frei. Wie mir aus dem "dunkelkatholischen Echoraum" zugetragen wurde, begründet die Theologieprofessorin die Wahl ihres Outfits damit, dass ihre Studenten sie in Zivilkleidung ernster nähmen, als wenn sie im Habit am Katheder stünde. Das gibt natürlich zu denken: Was mögen das für Theologiestudenten sein, die eine Ordensschwester im Habit weniger ernst nehmen als eine ohne? Aber lassen wir das mal dahingestellt. Auch dafür, dass Sr. Margareta Gruber aus der Diözese Rottenburg-Stuttgart kommt (und dass man diese Herkunft auch an ihrer Sprache deutlich bemerkt), kann sie letztlich nichts. Viel entscheidender ist allemal, was sie zu sagen hatte. Der Direktor der Katholischen Akademie, Joachim Hake, der Sr. Margaretas Impulsvortrag anmoderierte, hob hervor, die Referentin stehe für eine Theologie, die "nicht nur historisch-kritisch, sondern auch intertextuell" arbeite: "von den Evangelien zu Umberto Eco und zurück". Das ließ ja schon mal Schlimmes befürchten. 

Nun sollte es in dem Vortrag ja irgendwie um den Prozess der Pastoralen Räume gehen, und die Referentin wies gleich eingangs darauf hin, dass die Situation der Pfarreien - Mitgliederschwund, Verlust räumlicher Präsenz, damit einhergehend die Frage nach der Notwendigkeit des Zusammenschlusses zu größeren Einheiten - durchaus mit der Situation der Ordensgemeinschaften vergleichbar sei; ihre weiteren Ausführungen drehten sich jedoch nicht um praktische Konsequenzen dieser Situation, sondern darum, sie geistlich zu betrachten. Irgendwie jedenfalls. Der Großteil des Vortrags kreiste um die Feststellung, dass wir in einer "VUCA-Welt" leben - wobei die Buchstabenfolge VUCA für "volatility" ("Flüchtigkeit"), "uncertainty" ("Unsicherheit"), "complexity" ("Komplexität") und "ambiguity" ("Mehrdeutigkeit") steht. Tja, so ist sie wohl, die Welt, in der wir leben. Könnte man jetzt vielleicht meinen, der christliche Glaube ermögliche es, inmitten dieser flüchtigen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Welt so etwas wie Beständigkeit, Sicherheit und Eindeutigkeit zu finden? Nö, kann man nicht, meint Sr. Margareta: Im Gegenteil, Christsein ist eigentlich von vornherein und prinzipiell schon immer total VUCA. Sogar, ja besonders das Ostererlebnis, auf dem schließlich das ganze Christentum basiert, ist ein VUCA-Erlebnis par excellence - im Grunde sogar verunsichernder, ja verstörender als die Kreuzigung.  

"Noli me tangere" -- Mosaik im Dom von Monreale. (Bildquelle hier)
Krass. Muss man erst mal drauf kommen. Zugegeben: Dass die Auferstehung Jesu die Jünger zunächst einmal verunsichert hat, lässt sich anhand der Evangelien durchaus belegen. Aber wenn man über diese nachösterliche Verunsicherung spricht, sollte man dann nicht auch über Pfingsten sprechen - als den Moment, in dem die Jünger durch das Wirken des Heiligen Geistes die Sicherheit gewannen, die sie befähigte, rauszugehen und die Botschaft vom auferstandenen Christus zu verbreiten, mit allen Konsequenzen, die das für ihr eigenes Leben hatte? Aber nö. Stattdessen kreiste der Vortrag im weiteren Verlauf weitgehend darum, die Auferstehung als "Bild" zu betrachten und darüber zu orakeln, was dieses Bild uns denn wohl sagen wolle. Das scheint allgemein ein Problem einer "modernen" Theologie zu sein, die überall nur "Bilder" sieht und darum nie danach fragt, was etwas ist, sondern nur danach, was es bedeutet. Dass, wie Papst Benedikt XVI. immer wieder (und besonders eindringlich in seiner "Jesus von Nazareth"-Trilogie) betont hat, das Radikale, Welterschütternde des Christentums gerade darin besteht, dass im Zentrum seiner Lehre nicht irgendwelche Ideen stehen, sondern ein reales Ereignis - nämlich eben die Auferstehung Christi -, geht dabei in vieldeutigem Geraune unter. Schwammig, nebelhaft, Windhauch und Luftgespinst. "Wie sollen wir anderen Menschen erklären, dass wir an jemanden glauben, der gestorben und auferstanden ist?", fragt Sr. Margareta. Eine Frage, die vor allem dann zum Problem wird, wenn man selbst bestenfalls "irgendwie" daran glaubt.

An den Impulsvortrag schloss sich zunächst keine allgemeine Diskussion an, sondern erst einmal ein Gespräch zwischen Akademiedirektor Hake und der Referentin. Gleich die ersten Fragen, die Hake an Sr. Margareta stellte, unterstrichen den Eindruck, den ich schon während des Vortrags gehabt hatte: Vom christlichen Glauben wurde gewissermaßen nur im Konjunktiv oder in Anführungsstrichen gesprochen. Wie wäre es, ein gläubiger Christ zu sein? Was würde das für das eigene Leben bedeuten? -- Und da wundert man sich noch, dass der Kirche die Leute davonlaufen und dass insbesondere die Ordensgemeinschaften mit Nachwuchsproblemen zu kämpfen haben. Wie kann man denn erwarten, dass jemand sein Leben an ein "Als-ob" und "Was-wäre-wenn" hingibt? Nun, ehrlich gesagt erwartet das wohl auch niemand. Man nimmt vielmehr achselzuckend hin, dass das nun mal so sei und man damit leben müsse. -- Als dann der Satz "Jesus kannte sicherlich auch eschatologischen Stress" fiel, hatte ich endgültig genug und trat den Rückzug an - nicht ohne zuvor, quasi zur Buße für die Teilnahme an dieser Veranstaltung, noch ein paar Minuten vor dem Tabernakel zu knien, der in einen Nebenraum ("Seitenkapelle" würde ich es nicht nennen) der Kirche ausgelagert ist.

Ich möchte übrigens - da man im Zeitalter der Microaggression ja so leicht missverstanden wird - betonen, dass es mir hier nicht darum geht, Sr. Margareta persönlich schlechtzumachen. Ich habe aus meinem virtuellen Bekanntenkreis durchaus auch Gutes über sie gehört. Es geht mir auch nicht darum, die Veranstaltung schlechtzumachen, weil ich mich etwa darüber ärgere, trotz Krankheit da hingegangen zu sein. Tatsächlich ärgere ich mich nicht darüber, dort gewesen zu sein, denn sonst könnte ich ja nicht darüber schreiben. Und das, was an dieser Veranstaltung so ärgerlich war, ist letztlich ja nur ein Symptom für so Manches, was in der Kirche im Argen liegt. 

In diesem Sinne war es so ziemlich das Ermutigendste an dieser Veranstaltung, dass sich kaum jemand dafür interessierte. Außer mir hatte sich nur ein ziemlich überschaubares Häuflein überwiegend älterer, halbwegs gutsituiert wirkender Leutchen herverirrt. Äußerlichkeiten mögen trügen, aber ich hatte das Gefühl, es handle sich im Wesentlichen um denselben Typus von Leuten, mit dem ich mich schon in meiner "ersten Fundi-Phase" - im Alter von ca. 14-16 Jahren - bei den ökumenischen Glaubensgesprächen in Butjadingen gern gefetzt habe: pensionierte Studienräte und -innen, die von ihrer intellektuellen Überlegenheit gegenüber dem gemeinen Landvolk ganz besoffen sind, sich dabei aber wahnsinnig tolerant und aufgeschlossen wähnen. Die Toscana-Landwein-Fraktion des Gottesvolks, gewissermaßen. -- Wäre ich ein bisschen fitter gewesen, hätte ich vielleicht Lust gehabt, auch hier, wie einstmals in Butjadingen , die Diskussionsrunde mit ein paar knalligen Sätzchen aufzumischen; aber, wie gesagt: Männergrippe. Da fuhr ich also doch lieber nach Hause. 

Was also haben wir an diesem Abend über die Zukunft der Kirche und/oder die "Kirche der Zukunft" gelernt? -- Nun, um die Zukunft der Kirche als Ganzer - der Kirche als mystischer Leib Christi, als wanderndes Gottesvolk, als Gemeinschaft der Heiligen - muss man sich keine Sorgen machen. Diese Kirche wird nicht untergehen, das hat der Herr ihr unmissverständlich zugesagt. Das gilt aber nicht zwangsläufig für konkrete kirchliche Strukturen, wie wir sie kennen und an die wir gewöhnt sind: Die können durchaus untergehen, und zum Teil verdienen sie es womöglich sogar. Dass der Niedergang der "Volkskirche" bei denen, die an sie gewöhnt sind und sich in ihr zu Hause fühlen, Sorgen und Ängste auslöst, ist verständlich; aber dieser Niedergang birgt auch Chancen. Anderswo blüht und wächst die Kirche. Und mit "anderswo" meine ich nicht nur "Afrika". Dieses "Anderswo" kann man auch hierzulande antreffen - etwa in den Neuen Geistlichen Gemeinschaften bzw. Bewegungen, aber sicherlich auch hier und da in Initiativen "ganz normaler" Pfarreien. Eine postchristliche Theologie, die Glaubensaussagen so sehr verwässert, dass sie nicht mehr in der Lage ist, Antworten zu geben, sondern nur immer neue Fragen aufwirft, ist hingegen sicherlich kein Weg in die Zukunft.

Möglicherweise sieht Sr. Margareta das sogar, entgegen dem ersten Eindruck, irgendwo gar nicht so völlig anders. Der eindeutig schönste Satz, den sie sagte, solange ich dabei war, lautete: "Wir brauchen einen stärkeren Glauben." In der Tat - den brauchen wir sehr


Sonntag, 2. Oktober 2016

#EBERKACK!

Vor knapp zwei Wochen bekam ich so nebenbei einen Dialog zwischen den Twitter-Accounts der Erzbistümer Köln und Berlin mit, in dem es um ein Event oder Projekt mit dem Kürzel #EBKHACK ging. Irgend etwas, was im Erzbistum Köln stattfindet bzw. vom Erzbistum Köln ausgerichtet wird (daher auch der Abkürzungs-Bestandteil "EBK"), und der oder die Kölner Erzbistums-Twitterer legte(n) nun den Berliner Kollegen nahe, in Berlin könne man so etwas doch auch mal machen. In der Hauptstadt reagierte man eher zurückhaltend. Ich nahm das wie gesagt nur am Rande wahr und unternahm vorerst keine weiteren Nachforschungen darüber, was es damit wohl auf sich habe. Bis ich einige Tage später auf Facebook in eine Diskussion befreundeter "Netzkatholiken" hineinstolperte, in der die Projektausschreibung zum #EBKHACK verlinkt war. Daraufhin sah ich mir das doch mal an. 

Illustration (c) Peter Esser

Der eigentliche Veranstalter, so scheint es, ist ein Unternehmen namens "next media accelerator GmbH" - laut Eigenbeschreibung "ein Startup-Accelerator [...] für frühe Startups rund um Medien - Content, Advertising, Technology und Services". So so, a-ha. Und was wollen die nun mit dem bzw. für das Erzbistum Köln machen? Antwort: einen Hackathon - unter dem Motto "Hack the Erzbistum - Digitaler Spirit trifft 2000 Jahre Heiligen Geist". Soweit, so Gosh. Was aber ist ein Hackathon? Die Ausschreibung gibt Auskunft: 
"Auf einem Hackathon arbeiten Programmierer, Designer, Entrepreneure, Marketers, Bastler, Ingenieure über mehrere Tage gemeinsam an einer Idee zu einem bestimmten Thema. Ein Geschäftsmodell, Logo und vielleicht schon ein erster Prototyp werden in kleinen Teams entwickelt und abschließend einer Jury vorgestellt."
Abermals: So so, a-ha. Man muss den Text allerdings ziemlich weit runterscrollen, um auf diese Information zu stoßen. Weiter oben liest man stattdessen u.a.: 
"Kirche ist die vielleicht größte Social Community der Welt. Seit 2000 Jahren sind wir Storyteller. Wir haben schon Influencer und Content Marketing betrieben als noch nicht mal die Opas der Google- und Snapchat-Gründer auf der Welt waren.
Activation, Retention, Challenge, Solutions, Interaction - Schlagworte aus Medien, Marketing und Produktentwicklung gelten auch im kirchlichen Umfeld."
Wer jetzt denkt "Holy Shit!", der liegt genau richtig: 
"Es geht um die älteste Geschichte der Menschheit. Um Glaube. Hoffnung. Liebe. Es geht um die wichtigsten Themen im Leben. Wir brauchen Euren Input für #the#next#holy#shit."
Und damit nicht genug: 
"Wir wollen mit Euch diese Themen neu, zeitgemäß und digital denken [...]. Wir suchen für unser Hackathon:
  • OK Community Champs
  • Hard Core Integration Big Dogs
  • Lead Data Hipster Chicks
  • und World Class Press Dudes." 

Au backe. Das ist ja schon rein sprachlich ganz furchtbar. MUSS man mit Programmierern, Designern, Bastlern und Ingenieuren heutzutage so reden? Ich kenne durchaus auch ein paar Leute aus diesen Berufsgruppen, und die reden nicht so. Aber darauf kommt es letztlich wohl nicht an; viel entscheidender ist allemal die Frage: Was soll der Scheiß? Die Antwort, die die Ausschreibung darauf gibt, klingt relativ zurechnungsfähig: 
"Wir nehmen wahr, dass immer mehr Menschen in unterschiedlichen Situationen nach Sinn fragen - nicht mehr weiter wissen, wütend sind, ratlos oder enttäuscht. Wir würden gern noch mehr Formen finden, um diesen Menschen zuzuhören, Antworten anzubieten, Gemeinschaft und Rückhalt zu geben." 
Okay. Okay, okay, okay. Dass das Erzbistum Köln nach neuen Ideen für die Pastoral sucht, ist ja zunächst einmal durchaus löblich. Aber woher kommt eigentlich die Schnapsidee, neue Ideen müssten unbedingt netzbasiert sein und idealerweise in Form einer App daherkommen? Klar, man will "die Leute da abholen, wo sie stehen". Aber es ist ja - und das sage ich als jemand, der wirklich dauernd im Internet unterwegs ist - durchaus nicht so, dass man "die Leute" nur noch im so genannten virtuellen Raum antreffen und erreichen könnte. Das denken ironischerweise vor allem solche Leute, die selbst eher wenig netzaffin sind - für die das Internet also, sprichwörtlich gesagt, #Neuland ist. Die stellen sich wer weiß was darunter vor. Wir erinnern uns: Vor einigen Monaten veranlasste die Spieleinnovation Pokémon Go manche Pastoralstrategen dazu, laut darüber nachzudenken, ob man nicht in virtuelle Pokémon-Lockmittel investieren sollte, um die begehrte Zielgruppe der Manga-Monster-Jäger ganz physisch "der Kirche näher zu bringen" - während konservativere und innovationsskeptischere Kirchenleute sich eher darum sorgten, wie man die virtuelle Pokémon-Hatz aus dem eigentlichen Kirchenraum fernhält. Nun war der Hype um Pokémon Go zwar schneller vorbei, als die kirchliche Bürokratie ein Budget für Pokémon-Köder bereitstellen konnte, aber die Spieleentwickler-Zunft schläft nicht, und bald wird eine neue Spielesensation erscheinen, die auf den technischen Innovationen von Pokémon Go aufbaut, deren Möglichkeiten aber noch erweitert. Und die Pastoralstrategen werden total überrumpelt sein und erneut völlig unvorbereitet in Aktionismus verfallen. Gibt es eigentlich nur die Alternativen, entweder ein kulturpessimistischer Hinterwäldler zu sein oder aber jeden Scheiß mitzumachen, sprich: jedem Trend hinterherzuhecheln? 

Eng mit dieser Frage verbunden ist ein anderer Verdacht, der sich aufdrängt: dass nämlich die Verantwortlichen beim Erzbistum Köln, die das Projekt #EBKHACK abgenickt und womöglich auch den überkandidelten Ausschreibungstext durchgewinkt haben, sich dabei denken: "Die Katholische Kirche hat so ein altbacken-spießiges Image, dagegen müssen wir mal was tun". Und genau dieses Bestreben wirkt so altbacken-spießig wie nur was. 

Was mich übrigens darauf bringt, dass ich vor ein paar Tagen mit meiner Liebsten beim "Willkommenstag" des Theaters an der Parkaue war. Das Theater an der Parkaue - das zur Zeit allerdings gar nicht an der Parkaue in Lichtenberg spielt, sondern im Prater im Stadtteil Prenzlauer Berg - ist das Kinder- und Jugendtheater des Landes Berlin und veranstaltet in jeder Spielzeit einen "Willkommenstag" für Lehrer, Erzieher und Theaterpädagogen, um diesen die Arbeit des Theaters vorzustellen. Und dahin hat meine Liebste mich, der ich immerhin einen Magister-Abschluss in Theaterwissenschaft habe, diesmal kurzerhand mitgenommen. 



Das Theater als Medium hat ja mit der Kirche Eines gemeinsam, nämlich dass es Jahrtausende alt ist und deshalb von nicht wenigen Menschen als nicht mehr zeitgemäß wahrgenommen wird. Diesem Eindruck will man natürlich entgegenwirken - und hier wie dort gibt es Leute, die meinen, um zu zeigen, dass man eben doch zeitgemäß ist, müsse man "irgendwas mit Internet" machen. 

Folgerichtig handelte es sich bei einem der Workshops, die bei diesem "Willkommenstag" angeboten wurden, um die Projektvorstellung einer Produktion zum Thema Soziale Medien, die sich noch im Konzeptionierungsstadium befindet: "Algorhythm is it" - eine Koproduktion mit dem Künstler-, nein, ich meine natürlich Künstler_innen-Netzwerk cobratheater.cobra im Rahmen der Projektwerkstatt "Haus der digitalen Jugend". Klingt schräg? Ist es auch. Über die Produktion "Algorythm is it" - vom Titel her offenkundig angelehnt an den preisgekrönten Dokumentarfilm "Rhythm is it" über ein Ballettprojekt für Jugendliche aus Problemschulen (worauf jedoch nicht näher eingegangen wird) - heißt es in der Infomappe für die am "Willkommenstag" teilnehmenden Pädagogen: 
"Algorithmen durchziehen unser Leben. Ob als WhatsApp-Nachrichten, Urlaubsbuchungen im Internet, gelikete Posts bei Facebook oder Recherchen für das nächste Referat, längst wissen die unsichtbaren Datensysteme unsere Antworten, bevor wir den Suchbegriff überhaupt eingegeben haben. Diskret im Hintergrund sind sie immer anwesend und führen als systematische Datenauswertung ihr Eigenleben."
Vorgestellt wurde das Projekt von vier jungen Leuten - schätzungsweise zwischen 20 und 30 Jahren alt - von cobratheater.cobra, die zwar hübsch aussahen und sympathisch 'rüberkamen, aber den Eindruck erweckten, selbst nicht so genau zu wissen, worüber sie sprechen oder worauf die Produktion hinauslaufen soll. 


Um Algorithmen soll es gehen, die in Online-Netzwerken das Handeln der Nutzer steuern, ohne dass diese das bemerken bzw. durchschauen. "Wir wissen nichts darüber, das ist ein großes Problem" - dieses Statement war für mich ein Kernsatz der Präsentation, dicht gefolgt von der Aussage, man wolle das Thema "möglichst affirmativ, aber auch kritisch" darstellen. Alles in allem ergab sich das leicht tragikomische Bild, dass da eine Gruppe von Twentysomethings den Versuch unternimmt, Schülern ab der 8. Klasse Medienkompetenz in einem Bereich zu vermitteln, in dem ein durchschnittlicher Achtklässler sich besser auskennt als sie selbst. Ungemein bezeichnend fand ich es, dass die Macher von "Algorythm is it" sich als Vorbild für eine, vielleicht DIE zentrale Figur ihres Stücks den "Wanderer über dem Nebelmeer" aus dem gleichnamigen Gemälde von Caspar David Friedrich ausgesucht hatten. Passt ins Bild, dachte ich: So hip sie sich auch zu kleiden versuchen und so beflissen gendersensibel sie sprechen, so sehr fahren sie insgeheim auf spätromantische Kulturkritik ab. So wie früher davor gewarnt wurde, die Geschwindigkeit der Eisenbahn sei schädlich für die körperliche und geistige Gesundheit des Menschen, wird heute vor dem Internet gewarnt. Als eine Antagonistenfigur wurde "ein ungefähr älterer Herr" eingeführt, der im Internet in die Rolle eines jungen Mädchens schlüpft. Originell ist was Anderes. Wo da nun eigentlich das "Affirmative" zum Tragen kommen soll, blieb unklar. 


An der Diskussion im Anschluss an die Präsentation beteiligte ich mich nicht, aber irgendwie - vielleicht durch mein griesgrämiges Getuschel mit meiner Liebsten - muss ich den cobratheater.cobra-Leuten dennoch aufgefallen sein, denn später, beim Sektempfang im Theaterfoyer, sprach einer von ihnen mich direkt an: was ich denn über das Projekt denken würde. Na fein. Ich tischte ihm alles auf, was mir so an Kritikpunkten einfiel, aber als ich zu dem Punkt kam, dass die heutigen Jugendlichen sich ja mit viel größerer Selbstverständlichkeit in Online-Netzwerken bewegen als unsereins, fiel mir plötzlich ein bzw. auf, dass es ja auch ein Ziel dieser Theaterproduktion sein könnte, diese "gefühlte Selbstverständlichkeit" zu unterlaufen, und ich gestand: "Jetzt, wo ich's sage, hört sich das für mich gar nicht so blöd an." Mein Gegenüber lächelte. Und nun entspann sich eine durchaus anregende Diskussion darüber, wie man der zunächst doch sehr mathematisch-technisch anmutenden Thematik des Stücks einen tieferen poetischen Gehalt abgewinnen und damit Grundfragen menschlicher Existenz berühren könnte - was, wie ich wert- und strukturkonservativer Zausel nun mal finde, im Grunde die Aufgabe des Theaters ist. Nach diesem Gespräch bin ich ehrlich gesagt "positiv gespannt" darauf, was bei der Produktion rauskommt. Die Uraufführung ist am 15. November. 

Diese Erfahrung, praktisch mitten in der Diskussion meine Meinung zu ändern - zumindest teilweise oder tendenziell - gibt mir natürlich (wenngleich bzw. zumal mir das gar nicht so selten passiert) zu denken, auch in Hinblick auf das Projekt #EBKHACK. Könnte es sein, dass auch an diesem Projekt mehr und Besseres dran ist, als ich auf den ersten Blick anzunehmen bereit bin? -- Nun ja, natürlich könnte es sein. Es kommt halt drauf an, was am Ende dabei rauskommt - und das ist bis auf Weiteres überhaupt nicht absehbar, denn um an diesem Hackathon teilnehmen zu dürfen, braucht man zwar einen Laptop, aber zunächst nicht einmal eine Idee. Kein Scheiß: 
"Optimal wäre, wenn jeder Teilnehmer eine Idee mitbringt - der Hackathon ist die einmalige Gelegenheit, diese in Rekordzeit auf die Beine zu stellen. Aber auch wenn Du keine Idee hast, bring Deine Fachkenntnisse, Fähigkeiten und Dein Netzwerk ein!"
Lassen wir uns also mal überraschen, was der Hackathon für eine Dynamik entwickelt - ist ja nicht auszuschließen, dass da etwas Sinnvolles entsteht. Aber ich selbst würde trotzdem eher andere Prioritäten setzen. Analogere. Weil eben, wie schon gesagt, das soziale Leben nicht nur in den Sozialen Medien stattfindet. Sondern auch, nach wie vor, auf der Straße, in der U-Bahn, im Treppenhaus, am Arbeitsplatz und nicht zuletzt in der Kneipe. Natürlich verändert das Internet das Sozialverhalten der Menschen - aber das hat die Eisenbahn auch getan. Und das Telefon. Und das Auto. Im Grunde tut das Internet nichts Anderes: Es erschafft neue Wege der Kommunikation, schnellere Wege. Aber es ist letztlich auch nur ein Instrument und keine grundlegend neue Realität. Wenn nun Strategen, die das Internet als etwas Fremdes und Mysteriöses anstaunen, meinen, man müsse "ins Internet gehen", weil da die Menschen seien, dann kann ich einerseits über diese Naivität lächeln, mache mir andererseits aber Sorgen, dass die ganz analoge Basisarbeit "auf der Straße" darüber vernachlässigt wird, aus dem Blick gerät. Mir schweben da ganz andere Wege der Pastoral und Neuevangelisierung vor. Unterschiedliche Menschen ganz physisch an einen Tisch bringen. Ihnen einen Teller Suppe auftischen. Den Straßenmusiker aus der S-Bahn-Unterführung einladen, dabei zu musizieren (und natürlich mitzuessen). Ins Gespräch kommen, und darüber günstigenfalls dann auch ins Gebet. Dafür braucht man noch nicht einmal unbedingt Geld, aber schön wäre es doch, wenn es auch dafür eine gewisse Förderung seitens der Ordinariate gäbe. 

Aber vielleicht sind solche Ansätze dafür nicht trendy, hip und spektakulär genug. Für #EBKHACK stehen die Fördertöpfe weit offen: Für herausragende Ergebnisse des Hackathons gibt es Preise in Höhe von 200 bis 1.000 €, und ausgewählt werden die Preisträger von einer Jury, zu der u.a. "Pfarrer Norbert Fink (Der 'Elvis-Pfarrer' auf youtube; Traupriester von Daniela Katzenberger)" gehört. Na hossa. Hervorzuheben ist auch und nicht zuletzt ein verräterischer Lapsus in der Beschreibung der mit 1.000 € dotierten Sonderpreis-Kategorie (worauf ich durch die eingangs erwähnte Facebook-Diskussion aufmerksam gemacht wurde): 
"Die beste Idee aus Jury-Sicht, um aufmerksamkeitsstark und nachhaltig auf die Mitgliederentwicklung der katholischen Kirche einzuzahlen."
Na klar: "Punk-Pastoral" zahlt nichts ein. Die Zielgruppe der Hippen, Coolen und Bekloppten, auf die die #EBKHACK-Projektbeschreibung zugeschnitten scheint, schon eher. Damit dürften die Prioritäten ge- bzw. erklärt sein. Aber die gute Nachricht zum Thema #EBKHACK findet sich gewissermaßen im Kleingedruckten: 
"Auch für Bier wird gesorgt sein".
Na dann! Man könnte sich zwar fragen, ob Leute, die solche Texte verfassen oder sich von ihnen angesprochen fühlen, nicht vielleicht eher andere Drogen konsumieren, aber hey - Bier ist schon okay. Vielleicht würde es sich also doch lohnen, teilzunehmen... 



Samstag, 1. Oktober 2016

Soap meets Sushi

Wie schon einmal erwähnt, sind meine Liebste und ich zwar im Besitz einer voll funktionstüchtigen Braunschen Röhre (MIT Kabelanschluss!), aber tatsächlich benutzen wir das Gerät kaum. Zur Begründung dieses Umstands genügt ein Blick ins Fernsehprogramm: Das Allermeiste, was da so läuft, kann man wohl getrost in die Kategorie "Sendungen, die die Welt nicht braucht" einordnen - wenn nicht gar "Sendungen, deren Nichtexistenz die Welt ganz gut gebrauchen könnte". 

Gestern allerdings waren wir in einem Sushi-Restaurant - so richtig stilecht mit Förderband, auf dem die frisch in der Küche zusammengebastelten Sushi-Kreationen an einem vorbeifahren -, und an der Wand über dem Förderband hing ein Fernseher, auf dem Das Erste lief. Sogar mit Ton, allerdings war der so leise gestellt, dass man kaum etwas davon mitkriegte. Außer man konzentrierte sich darauf. Was man aber natürlich nicht tut, schon gar nicht, wenn da "Sturm der Liebe" oder so'n Quatsch läuft.

Die Erfahrung hat gezeigt - zum Beispiel auch auf dem Jakobsweg, wo wir in verschiedenen Lokalen mehrere Folgen der spanischen Telenovela "Seis Hermanas" ("Sechs Schwestern") zu sehen bekamen -, dass Seifenopern grundsätzlich interessanter wirken, wenn man die Dialoge nicht oder nur teilweise versteht. Und zwar deshalb, weil man sich das, was man nicht versteht, prinzipiell und automatisch als weniger banal vorstellt, als es tatsächlich ist.

"Während Desirée sich alle Mühe gibt, ein romantisches Ambiente für Clara und David zu schaffen, ist Adrian skeptisch, dass Clara sich so einfach verkuppeln lässt. Als Desirée schließlich mit langsamer Musik für Schmuseatmosphäre sorgt", hat der Zuschauer sein Gehirn bereits abgeschaltet. Mir fällt an "Sturm der Liebe" vor allem die flache, schablonenhafte Bildästhetik bzw. Nicht-Ästhetik auf, die an Genre-"Klassiker" wie "Reich und schön" erinnert - wie übrigens auch die Frisuren, das Make-up und die Kleidung v.a. der weiblichen Charaktere. Besonders gravierend sind die Mängel im Bereich Szenenbild. Wie schwer es ist, ein Studio bzw. irgendeinen neutralen Raum so auszustaffieren, dass er aussieht wie eine Wohnung, in der tatsächlich jemand wohnt, merkt man erst, wenn einem das Scheitern dieses Versuchs so deutlich vor Augen geführt wird. "Bei IKEA können sie das besser", merkt meine Liebste an, und ich muss ihr Recht geben. --

"Und wieso steht das Bett eigentlich direkt an Fenster?" 
"Weil auf der anderen Seite die Kameras stehen." 
"Hätte man doch auch andersrum machen können. Oder einen Raum ohne Fenster nehmen können." 
"Stimmt, hätte man. Aber dann hätte man ja wieder das Problem gehabt, dass man die Wand gestalten müsste. Ist da ein Fenster, ist die Wand schon gestaltet." 
(Hätte man als Drehort eine echte Wohnung, würde man es natürlich eher vermeiden, das Fenster voll im Bild zu haben. Weil das die Ausleuchtung stört. Da müsste man das Fenster erst aufwändig mit einer speziellen Folie abkleben, die zwar durchsichtig aussieht, aber trotzdem kein Licht durchlässt.) 
"Die Macher der Serie können froh sein, dass die allermeisten Zuschauer sich über solche Fragen keine Gedanken machen. Sonst hätten sie noch viel mehr zu tun."


Übrigens wechselt der Schauplatz der Serienepisode beharrlich zwischen steril-seelenlosen Rigips-Etagenwohnungen bzw. -Büros und malerisch sein wollendem Gutshof-Ambiente mit Bauernmöbeln. "Wo soll das Ganze überhaupt spielen?", fragt meine Liebste, und ich erwidere spontan: "Auf Gut Hohenbuchen!" Das habe ich aus einem Theaterstück, das wir kürzlich im Theater an der Parkaue gesehen haben: "Bilder deiner großen Liebe". Ein Ein-Personen-Stück, das sich um die Phantasien eines psychisch kranken Mädchens dreht. In einer Szene stellt die Protagonistin sich vor, sie lebe auf Gut Hohenbuchen und warte darauf, dass ihr Mann aus dem Krieg heimkehrt. Was er dann auch tut -- "und ich fange sofort an, Gemüsesuppe zu kochen. Weil das das Einzige ist, was ich kann. Und außerdem ist es das, was deutsche Soldaten am liebsten essen."

Aber mit dem Niveau dieses Bühnenstücks kann "Sturm der Liebe" leider nicht mithalten. Zwischen zwei Happen California Inside Out Roll registriere ich eine Einstellung, in der auf augenkrebserregende Weise eine Überblende mit Weichzeichner kombiniert wird. Grausliche 70er-Jahre-Softporno-Ästhetik, nur dass hier die Kussszene nicht dazu überleitet, dass die daran beteiligten Charaktere sich die Klamotten vom Leib reißen und sich Sekunden später in einem gleißend weißen Kingsize-Bett wiederfinden. Merke: Wenn scheue Küsse groß in Szene gesetzt werden, deutet das in der Soap-Opera-Logik auf Wahre Liebe hin. Der weitere Handlungsverlauf scheint - obwohl ich mir da nicht ganz sicher bin, zumal ich die ganzen glattgesichtigen Jung-Mimen nicht auseinanderhalten kann - darauf hinzudeuten, dass die weichgezeichnete Szene eine Rückblende, sprich: eine Erinnerung der weiblichen Person (Clara?) sein sollte. Aber in den 70ern war die doch noch gar nicht geboren... Na, egal: Früher - also, noch früher, meine ich - war die Vergangenheit schwarz-weiß. Ganz so weit zurück in die Vergangenheit geht diese Rückblende demnach wohl doch nicht.

Kurz darauf fällt mir auf, dass eine der weiblichen Serienfiguren (ist das die aus der weichgezeichneten Kussszene? Clara? Ich bin mir nicht sicher!) eine Bluse trägt, deren unvorteilhafter Schnitt, schreiendes Muster und biedere Kragenform ebenfalls stark nach Seventies aussehen. Plötzlich ist mir alles klar: Die Serienheldin kommt aus den 70er Jahren, wurde durch ein Wurmloch (oder so) in eine schlecht ausgestattete Soap-Welt hineingesogen und sucht nun den Weg zurück in ihre Welt und zu ihrem weichgezeichneten Lover (Adrian? David?). -- "Kann nicht sein", meint meine Liebste. "Das wäre eine viel sinnvollere Handlung, als ich sie dieser Serie zutraue."

Noch ehe "Sturm der Liebe" zu Ende ist, haben wir unser Sushi aufgegessen und rüsten uns zum Aufbruch - wir wollen nämlich noch unsere Trauringe abholen (!!) und danach ins Kino. "Aber bezahlen sollten wir noch", merkt meine Liebste an. -- "Stimmt. Sonst haben wir die japanische Sushi-Mafia auf dem Hals. Und das würde weniger glimpflich ausgehen als eine Soap-Opera..."