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Mittwoch, 21. Dezember 2016

Der seltsame Fall der eingekerkerten Nonne, Teil 10

In meiner Besprechung von Dr. A. Rodes zeitgeschichtlichen Sensationsroman Barbara Ubryk oder die Geheimnisse des Karmeliter-Klosters in Krakau (München 1869) war ich zuletzt bis zur Geburt der Titelheldin gekommen. Ich weiß, das klingt komisch, aber ich kann ja nun auch nichts dafür, dass der Autor über 500 Seiten, 11 Lieferungshefte und 40 Kapitel füllt, ehe er mal seine nominelle Hauptfigur das Licht der Welt erblicken lässt. Bis sie aktiv in die Handlung eingreifen kann, werden aber naturgemäß noch einige Jahre Handlungszeit vergehen. Schauen wir uns also indessen mal an, was sonst noch so los ist in Dr. Rodes Romanungetüm.  

Wir schreiben das Jahr 1817. Jaromir Ubryk ist inzwischen verstorben, ebenso auch Elkas Tante, deren in ihren letzten Lebensjahren zum Ausbruch gekommene starke Frömmigkeit auf den Seiten 497-500 noch einmal ausgiebig polemisch ausgemalt wird. Nachdem Elka ihr ausreden konnte, ihr Vermögen der Kirche zu vermachen, hat sie es schließlich dem Jesuitenzögling Wratislaw vererbt - was auf den ersten Blick mehr oder weniger auf dasselbe hinauszulaufen scheint, aber warten wir's mal ab... Einer von Kasimir Ubryks jüngeren Brüdern ist "als Offizier im Kampfe gegen die Russen geblieben" (S. 496), ein anderer ist Kapuzinermönch geworden - was dem Autor einmal mehr Gelegenheit zu polemischen Ausfällen gegen das Ordenswesen gibt (S. 497: "Gott ist größer als Ihr ihn Euch denkt; er verlangt ein reines Herz und gute Werke, nicht aber braune oder schwarze Kutten und geschorne Köpfe, worin Eure ganze Heiligkeit und Frömmigkeit besteht!"), darüber hinaus aber auch zukünftig noch handlungsrelevant werden könnte. 

Elkas Part-Time-Lover Hugo von Rassow wird übrigens erst auf S. 500 in einer Randbemerkung wieder erwähnt, etwas ausführlicher dann auf S. 503ff., als Elka Kasimir von ihren Geschicken seit seiner Gefangennahme berichtet. Es scheint, dass Elkas Affäre mit Hugo recht bald nach ihrem gemeinsamen Paris-Aufenthalt sang- und klanglos zu Ende gegangen ist - was den Verdacht nährt, die ganze Hugo-Handlung sei ein nachträglicher Einschub gewesen (also schon so ungefähr die vierte oder fünfte "Schicht" der Romanstruktur). 

Durch eine unbedachte Äußerung Elkas erfährt Kasimir, dass Rebinsky sie in jungen Jahren verführt hat, und auf sein beharrliches Nachfragen gesteht ihm Elka, dass aus dieser Liaison ein Sohn namens Ladislaus hervorgegangen ist, der ohne Wissen um seine wahre Herkunft bei einer Pflegefamilie lebt. Kasimir besteht darauf, dass er und Elka den Knaben adoptieren und zu sich nehmen, und Elka gibt seinem Drängen nach. Kurz darauf taucht ein Schreiben des verstorbenen Jaromir Ubryk an seinen Sohn Kasimir auf, in dem der Vater die Vertauschung seines jüngsten Sohnes mit der Tochter der Gräfin Satorin gesteht, die Ergebnisse seiner Nachforschungen nach dem Verbleib des verschwundenen Mädchens schildert und Kasimir beauftragt, die Suche fortzusetzen. Daraufhin besucht Kasimir mit Elka die Gräfin Satorin, hauptsächlich in der Absicht, seinen jüngsten Bruder kennenzulernen; als er Yelva, die Zofe der Gräfin, sieht und ihren Namen erfährt, schließt er anhand der Angaben im Brief seines Vaters sofort, dass Yelva niemand anders ist als die verschwundene leibliche Tochter der Gräfin. 

Es entbehrt natürlich nicht einer gewissen Tragikomik - und strapaziert die Glaubwürdigkeit ziemlich arg -, dass Kasimir somit auf Anhieb etwas entdeckt, was sein Vater in jahrelangen Nachforschungen nicht herausgefunden hat, obwohl es direkt vor seiner Nase lag; aber derlei Inkonsistenzen finden sich beispielsweise auch in Karl Mays erstem (und enorm erfolgreichen) Kolportageroman Waldröschen zuhauf. Yelvas Identität durfte einfach nicht früher entdeckt werden, da hat die Wahrscheinlichkeit zurückzustehen. Doch auch in diversen Details häufen sich an dieser Stelle die Anschlussfehler: 
  • Laut S. 269-272 hieß Jaromirs jüngster Sohn Josef; jetzt heißt er Alexander. Natürlich kann die Gräfin dem Kind einen neuen Namen gegeben haben, aber das würde nicht erklären, warum Jaromir ihn in einem Brief an Kasimir "Alexander, Dein[en] Bruder" nenne sollte, wenn der Adressat des Briefes ihn als Josef gekannt hat (S. 512).  
  • Von Elkas unehelichem Sohn Ladislaus heißt es auf S. 510, er habe "jetzt das 18. Jahr erreicht", d.h. er ist 17. Einige Zeit später heißt es auf S. 517 auch von Alexander "Er zählte jetzt 17 Jahre", dem Handlungsverlauf der ersten Kapitel zufolge müsste Ladislaus jedoch ungefähr ein Jahr jünger sein als Josef/Alexander und Judith/Yelva. 
  • Und schließlich der dickste Anschlussfehler: Auf S. 418 erzählt Yelva der Gräfin, dass sie eigentlich Judith heißt und von den Zigeunern aus dem Haus ihrer (vermeintlichen) Eltern geraubt wurde; Jahre später, auf S. 519, weiß die Gräfin nichts davon. 
Jedenfalls ist die Gräfin Satorin über die Erkenntnis, dass ihre vermisste Tochter tatsächlich schon längst bei ihr im Hause lebt, eher bestürzt als erfreut - was der Autor auf S. 520 ausführlich "psychologisch" begründet. Sie ist der Meinung, Yelva bzw. Judith dürfe ihre wahre Herkunft nicht erfahren, solange ihr Vater - hinter dessen Rücken die Kindsvertauschung seinerzeit eingefädelt wurde - noch lebt; folglich bleibt Judiths Stellung als Zofe vorerst unverändert. Dass sie und Alexander sich, wie ich schon vermutet hatte, ineinander verlieben, sieht die Gräfin nicht ungern: Sie hofft, wenn die beiden heiraten, würde Judith/Yelva die ihr zustehende Stellung einnehmen können, ohne dass die Kindsvertauschung (und damit auch Alexanders niedere Herkunft) enthüllt werden müsste, und somit wäre dann alles gut. Allerdings beginnt auch der Graf - also Judith/Yelvas leiblicher Vater - ein Auge auf das Mädchen zu werfen, sobald dieses zu einer ausnehmend schönen jungen Frau mit "schwellende[m] Busen" (S. 524) herangewachsen ist. Als die Gräfin ihren alternden Gatten bei Zudringlichkeiten gegenüber dem Mädchen ertappt, sieht sie die Notwendigkeit ein, Judith/Yelva aus dem Haus zu schaffen, um einem inzestuösen Verhältnis vorzubeugen. Elka erklärt sich bereit, das Mädchen als Gesellschafterin zu sich zu nehmen. Doch dort setzt sich ihre Rolle als verfolgte Unschuld fort: Sowohl der junge Ladislaus als auch Kasimir stellen der schönen Zofe nach. Zum Eklat kommt es, als beide Männer sich eines Nachts unabhängig voneinander in Yelvas Zimmer zu schleichen versuchen und das Mädchen um Hilfe schreit. Als Konsequenz aus diesem Zwischenfall schickt Elka die Zofe zur Gräfin Satorin zurück; glücklicherweise ist inzwischen der Graf gestorben, sodass Alexander und Yelva sich mit Einverständnis der Mutter verloben und ein Jahr später, nach Ablauf der Trauerzeit um den Vater, heiraten können. "Wenige Jahre darauf schied auch die alte Gräfin Satorin aus dem Leben. [...] Das Geheimnis des Kindestauschs aber hatte sie mit sich in das Grab genommen." (S. 563) 

Damit ist die im IX. Kapitel begonnene Kindsvertauschungshandlung also in der 12. Lieferung abgeschlossen - wenngleich nicht auszuschließen ist, dass Graf Alexander Satorin, der ja in Wirklichkeit ein Ubryk ist, in Zukunft noch eine Rolle spielen wird - bisher hat er ja keinen besonders aktiven Anteil an der Handlung gehabt. -- Die Schicksale Judiths bzw. Yelvas, die nach ihrer Vertauschung gegen das Kind einer armen Familie in einer Schenke vergessen, von einem jüdischen Händler mitgenommen, an eine andere jüdische Familie verkauft, von Zigeunern geraubt und zum Tanzen und Wahrsagen ausgebildet wurde, ehe sie als Kammermädchen ins Schloss ihrer Eltern kommt, ohne dass sie oder diese um ihre wahre Identität wissen, und die schließlich den jungen Mann heiratet, gegen den die einst ausgetauscht wurde, wären, wie schon mindestens einmal angemerkt, durchaus Stoff für ein eigenständiges Werk. Die Verbindungen zur sonstigen Handlung sind spärlich und lassen sich in wenigen Stichpunkten zusammenfassen: 
  • Der Vater des gegen die Grafentochter ausgetauschten Knaben heißt Ubryk. 
  • Dieser wird später Polizeichef und kommt im Zuge der Ermittlungen gegen eine Zigeunerbande auf die Spur des verschwundenen Mädchens, verliert diese Spur aber wieder. 
  • Sein Sohn und seine Schwiegertochter kommen hinter Yelvas Identität und klären ihre Mutter darüber auf. 
  • Später nehmen sie das Mädchen als Gesellschafterin zu sich, als sie vorübergehend das Schloss ihrer Eltern verlassen muss. 
Wie wir bereits gesehen haben, sind diese Verzahnungen mit anderen Handlungssträngen nicht durchweg plausibel geraten, und man könnte sich unschwer eine eigenständige Fassung der Kindsvertauschungsgeschichte vorstellen, in der die betreffenden Handlungsanteile entweder gänzlich fehlen oder aber von anderen Personen übernommen werden. Eine solche eigenständige Fassung würde allerdings verlangen, dass einige Teile der Handlung ausführlicher gestaltet wären, und beispielsweise käme es mir wesentlich stimmiger vor, wenn Judith alias Yelva mehrere Jahre bei den Zigeunern zubrächte. 

Alles in allem halte ich es, wie schon mehrfach angemerkt, für wahrscheinlich, dass der Verfasser zu dem Zeitpunkt, als er den Auftrag bekam, seinen Jesuiten- und Klosterroman zu einem Enthüllungsroman über Barbara Ubryk umzuarbeiten, bereits einen Entwurf zu einer Kindsvertauschungsgeschichte in der Schublade hatte, der eventuell erst teilweise ausgearbeitet war und den er nun durch Namensänderungen, durch das Hinzufügen neuer Passagen und womöglich auch durch Kürzungen so bearbeitete, dass er sich mehr schlecht als recht in den Roman einfügen ließ. Dass er damit weder dieser Geschichte noch dem Gesamtroman einen besonders guten Dienst erwiesen hat, steht auf einem anderen Blatt; aber man muss bedenken, dass er unter erheblichem Zeitdruck arbeitete. 

Eingeschoben in die Auflösung der Kindsvertauschungsgeschichte ist das Kapitel XLII, "Eine Nacht im Kabinete des Jesuiten-Generals" (S. 533-553), in dem "Pater Fortis, de[r] General des Ordens" (S. 534) Nachrichten von Ordensangehörigen aus allen Teilen der Welt erhält - darunter auch die "Beichte der Königin von Spanien" (S. 536), über die der Ordensgeneral sagt: "[D]a kann man sich doch erheitern, wenn man ihre Klagen über ihren Hofdamen liebenden Herrn Gemahl und ihre eigenen neunundneunzig Liebschaften liest, die sie des Tages über mit Generälen und Hofschranzen anknüpft" (S. 536f.). Der Autor denkt hier vermutlich an Maria Christina von Bourbon-Sizilien (1806-1878), die in der Tat für ihre Liebschaften berüchtigt war; aber das ist ein Anachronismus, denn Maria Christina wurde erst 1829 Königin von Spanien, und ihre Vorgängerin, Maria Josepha von Sachsen (1803-1829), war kränklich und tugendhaft und starb kinderlos im Alter von 25 Jahren. Sehr wahrscheinlich ist allerdings, dass Dr. Rode sich überhaupt keine großen Gedanken darüber gemacht hat, wer zur Handlungszeit dieses Kapitels Königin von Spanien war. 

Die zwanzig Nachrichten, die der Ordensgeneral erhält, sind vom Autor sämtlich darauf berechnet, den schurkischen Charakter des Jesuitenordens zu unterstreichen, aber nur zwei davon stehen in einem erkennbaren Zusammenhang mit der Gesamthandlung des Romans. Eine davon betrifft die Beichte des Galeerensträflings Pierre Latif - abgelegt unmittelbar vor dessen Tod -, aus der hervorgeht, dass dieser vor Jahren den Pater Rebinsky in der Seine ertränkt hat. Der Orden hatte bisher nichts über die Gründe für Rebinskys Verschwinden gewusst und geargwöhnt, er wäre mit einer Frau durchgebrannt - "denn wie aus seinen Akten ersichtlich ist, genoß er schon hier einen üblen Ruf in dieser Hinsicht" (S. 548). -- Wesentlich wichtiger ist jedoch die "Anzeige des Rektors Steinhuber zu Rom über einen dem Orden drohenden großen Verlust durch wahrscheinlichen Todesfall eines Zöglings Zolkiewicz" (S. 535) - also Elkas Bruder Wratislaw. Wie der Rektor des Collegium Romanum dem Ordensgeneral auseinandersetzt, hat der junge Graf Wratislaw seit dem Tod seiner Tante plötzlich einen entschiedenen Widerwillen an den Tag gelegt, in den Orden einzutreten, und hat schließlich sogar versucht, aus dem Kolleg zu fliehen, wurde aber wieder eingefangen und erkrankte in der Folge so schwer, dass mit seinem baldigen Tod gerechnet wird. Da er jedoch noch nicht mündig ist, würde im Fall seines Todes vor seinem 21. Geburtstag sein Vermögen an die Familie zurückfallen - und das gilt es zu verhindern: "Nein, nein, dieses Vermögen darf uns nicht entkommen, wir brauchen ohnehin sehr viel Geld für Bestechungen" (S. 543). Der Rektor besucht daraufhin Wratislaw am Krankenbett, um ihn dazu zu bewegen, sein Testament zu machen; er liest ihm einen Testamentsentwurf vor, in dem Elka und ihre Kinder als Erben eingesetzt werden und das Jesuitenkolleg lediglich 5.000 polnische Gulden erhalten soll, legt ihm dann jedoch ein anderes Testament zur Unterschrift vor, das vorsieht, den Orden zum Universalerben einzusetzen. Wratislaw bemerkt den Schwindel zwar, lässt sich aber durch die Androhung ewiger Höllenqualen dennoch zur Unterschrift nötigen. Als er kurz darauf stirbt, lassen die Jesuiten den Leichnam verschwinden und verheimlichen seinen Tod bis nach seinem 21. Geburtstag; dann richten sie ihm ein feierliches Begräbnis aus, bei dem jedoch nur "ein Strohwisch und ein Holzklotz" im Sarg liegen (S. 553). 

Die Nennung des "Pater Fortis" als Generaloberer des Jesuitenordens bringt allerdings wieder einmal ein chronologisches Problem mit sich: Aloisius (Luigi) Fortis wurde erst am 10. Oktober 1820 in dieses Amt gewählt. Wenn er also bereits zu einem Zeitpunkt Ordensgeneral ist, als Wratislaws 21. Geburtstag noch um zwei Monate in der Zukunft liegt (vgl. S. 542), dann dürfte Wratislaw zu Beginn der Romanhandlung noch gar nicht geboren gewesen sein. -- Relativiert wird dieser Fehler allerdings dadurch, dass Pater Fortis - wie schon einmal angemerkt - seinen Vorgänger Brzozowski bereits zu dessen Lebzeiten in Rom vertreten hat, da dieser Russland nicht verlassen durfte. 

Abgesehen von einigen Erwähnungen Elkas, die mit dem gleichzeitigen Stand der sonstigen Romanhandlung korrespondieren, aber einigermaßen mühelos nachträglich eingefügt worden sein können, spricht wenig dagegen, dass derjenige Teil des Kapitels, der sich um den Tod Wratislaws dreht, im Wesentlichen bereits der "ersten Schicht" der Romanstruktur angehört haben könnte - d.h. einer Bearbeitungsstufe, in der an eine Verknüpfung der Intrigenhandlung um das Erbe der gräflichen Familie Zolkiewicz mit dem realen Fall der Barbara Ubryk überhaupt noch nicht gedacht war. -- Der Beginn des auf den Abschluss der Kindsvertauschungshandlung folgenden XLIV. Kapitels (S. 564) kündigt einen erneuten Zeitsprung an, der in das Jahr 1830 führt; diesen Umstand nehme ich mal zum Anlass, den Roman vorläufig zur Seite zu legen. Im nächsten Jahr geht`s weiter! 



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